© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/13 / 04. Oktober 2013

Die schwerste Krise seit Kuba
Der Überfall Syriens, Ägyptens und Jordaniens auf Israel am jüdischen Feiertag Jom Kippur 1973 / Supermächte in Alarmbereitschaft
Mario Kandil

Nach der vernichtenden Niederlage Ägyptens, Jordaniens und Syriens im Sechstagekrieg von 1967 herrschte in Israels Regierung eine gewisse Unterschätzung der ägyptischen und syrischen Militärkraft vor, die einen Überraschungsangriff von deren Seite für unwahrscheinlich hielt. Zudem trat der neue ägyptische Staatschef Anwar al-Sadat (seit 1970 Nachfolger von Gamal Abdel Nasser) im Februar 1971 mit seiner ersten Friedensinitiative gegenüber Israel hervor.

Doch er fand mit seiner Initiative bei der damaligen israelischen Regierung von Golda Meir keine positive Resonanz. Überraschend war auch, daß Sadat trotz der Unterzeichnung eines Bündnis- und Beistandspakts mit der UdSSR (27. Mai 1971) am 8. Juli 1972 alle sowjetischen Militärberater aus Ägypten auswies. Den außenpolitischen Schwenk vollzog er in der Hoffnung, die USA könnten ihm bei der Rückgewinnung der 1967 an Israel verlorenen Gebiete helfen.

Nach seinem Sieg gegen die militärische Übermacht der arabischen Nachbarn hatte Israel den Gazastreifen und die Sinai-Halbinsel bis zum Suezkanal, dazu die jordanischen Gebiete westlich des Jordans mit der Altstadt von Jerusalem und mit den Golanhöhen einen Streifen syrischen Gebiets erobert und sich geweigert, diese ohne Gegenleistung zu räumen, wie es die Uno gefordert hatte. Vielmehr forderte Israel Friedensverhandlungen mit allen arabischen Nachbarn.

Da Sadats Friedensinitiative erfolglos blieb, plante er zweierlei: zum einen den „begrenzten“ Krieg gegen Israel, um die 1967 verlorene Ehre von Ägyptens Armee zurückzuerlangen, sowie die Supermächte – speziell die USA – zu einem Eingreifen in den Friedensprozeß zu bewegen. Es kam den Ägyptern zugute, daß sie zuvor von den Sowjets wieder aufgerüstet worden waren. Obgleich Sadat die 15.000 sowjetischen „Militärberater“ mitsamt ihrer Ausrüstung (darunter vier MiG-25) heimgeschickt hatte, fühlte er sich stark genug, um in enger Abstimmung mit Hafiz al-Assads Syrien Israel anzugreifen und den 4. Arabisch-Israelischen Krieg auszulösen.

Am 6. Oktober 1973, dem jüdischen Versöhnungsfest Jom Kippur, begann der Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens – über den übrigens ein kleiner DDR-Führungskreis um Erich Honecker vorab informiert war. Er fand die israelische Armee – trotz der Befestigungsanlagen (Bar-Lew-Linie) am Suezkanal – unvorbereitet und brachte den Angreifern zunächst militärische Erfolge. Wegen Jom Kippur ruhte zwar das öffentliche Leben in Israel, doch trotz anfänglicher Konfusion in den Mobilmachungsdepots konnten die Reservisten rasch eingezogen werden.

Die Syrer drangen an den Golan-höhen vor, wurden von den Israelis jedoch zurückgeworfen – zuletzt bis nur etwa 30 Kilometer vor Damaskus. Auch die Ägypter, die den größten Teil der Bar-Lew-Linie eingenommen und einen Streifen parallel zum Suezkanal okkupiert hatten, sahen sich zurückgedrängt. Nach Einkesselung der auf dem Ostufer des Suezkanals verbliebenen 3. Ägyptischen Armee, die kurz vor ihrer Vernichtung stand, befanden sich die israelischen Streitkräfte gerade noch 120 Kilometer von Kairo entfernt. Die militärische Initiative war nach einer Woche an Israel übergegangen.

Erst jetzt war eine Einigung der Supermächte und im Uno-Sicherheitsrat möglich. Dabei hatte bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn US-Außenminister Henry Kissinger Sadat in Kenntnis gesetzt, daß durch Abschluß eines Waffenstillstands „gute Chancen“ auf eine für die beide Kriegsparteien befriedigende Lösung existierten. War Sadat darauf angesichts des ägyptisch-syrischen Vormarschs zu Beginn des Feldzuges noch nicht eingegangen, tat er das nun doch, weil die USA per Luftbrücke massiv Waffen nach Israel brachten und auch die UdSSR auf eine Kampfpause drängte. Im Endeffekt landeten die Sowjets nicht – wie von Nixon befürchtet – Truppen in Ägypten, so daß die in den USA angeordnete Alarmierung (Defcon 3) aufgehoben wurde.

Am 25. Oktober wurde das Feuer eingestellt, wenig später unterzeichneten ein ägyptischer und ein israelischer General eine Waffenstillstandsvereinbarung. Diese war seit 1949 das erste zwischen Israel und einem arabischen Staat unterzeichnete Dokument. Nachfolgend zogen sich zwischen den Kriegsparteien, die auf beiden Seiten beträchtliche Verluste zu verzeichnen hatten, die Verhandlungen über die Truppenentflechtung mehrere Monate hin. Ein erstes Abkommen darüber wurde im Januar 1974 unterzeichnet.

Ohne sowjetische Ausrüstung und Instrukteure wäre es Ägypten und Syrien nicht möglich gewesen, den Krieg zu beginnen. Und ohne Waffen- und Munitionslieferungen aus den USA hätte umgekehrt Israel nicht zur Gegenoffensive ansetzen können. Es zeigte sich, daß die beiden Supermächte auch an „begrenzten Konflikten“ entweder verursachend oder mitwirkend und steuernd beteiligt waren. Jedoch wurde auch klar, daß die UdSSR zwar die Entstehung des begrenzten Konflikts förderte, aber an einer Ausdehnung zum großen Konflikt mit den USA kein Interesse hatte.

Für Sadat war der Jom-Kippur-Krieg, der übrigens Auslöser der Ölkrise 1973 war, trotz seines für Ägypten und Syrien sieglosen Ausgangs politisch ein Erfolg. Er hatte mit dem Krieg gezeigt, daß die arabische Welt militärisch nicht zu unterschätzen war. Im November 1977 reiste Sadat nach Israel und sprach vor der Knesset, und schon 1979 unterzeichnete er mit Premier Menachem Begin in Camp David das ägyptisch-israelische Friedensabkommen. Doch dies kostete Sadat das Leben, denn für die meisten Araber war sein Zugehen auf den Todfeind Israel unverzeihlicher Verrat. Am 6. Oktober 1981 – genau acht Jahre nach Beginn des Jom-Kippur-Kriegs – fiel Sadat bei einer Militärparade in Kairo einem islamistischen Attentat zum Opfer.

In Israel führte der Krieg zu einer bis heute fortwirkenden Traumatisierung der Öffentlichkeit. Das Erlebnis, von den arabischen Gegnern überrascht worden zu sein – nachdem man diese noch 1967 selbst mit einem Überraschungsangriff besiegt hatte –, erschütterte nicht nur den bis dahin lebendigen Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee und zwang die Premierministerin Golda Meir im April 1974 zum Rücktritt. Bis in die Gegenwart prägt Jom Kippur 1973 die Verteidigungsbereitschaft Israels, die eher durch Präventivschläge auch einen noch nicht angreifenden Feind attackiert, als noch einmal selbst überrascht zu werden (praevenire quam praeveniri). Daneben hat sich bis heute in Israel ein starkes Bewußtsein für gesicherte Grenzen, hochentwickelte Waffen und ständige Wachsamkeit als Garanten für eine sichere Existenz des Landes etabliert.

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