© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Von rechten und linken Sozialromantikern
Kriminalität: Der Jugendrichter Andreas Müller zieht eine ernüchternde Bilanz der Debatte über eine konsequentere Bestrafung
Chrisitan Dorn

Vor drei Jahren verkündete „Deutschlands bekannteste Jugendrichterin“, die unermüdlich streitende Kirsten Heisig, „das Ende der Geduld“. So lautete der Titel ihres Buches, dessen Manuskript sie unmittelbar vor ihrem Selbstmord vollendet hatte. Darin warb sie für die von ihr praktizierte Beschleunigung der Strafverfahren, das sogenannte „Neuköllner Modell“, das inzwischen fast in Vergessenheit geraten ist.

Bis zum Beginn der Strafverfahren dauert es in der Regel weiterhin neun bis zwölf Monate. Im „Neuköllner Modell“ folgt die Verurteilung entsprechender Delikte binnen weniger Wochen, wodurch erst der erzieherische Aspekt im Jugendrecht seine eigentliche Wirkung entfalten kann. Außer Bayern hat sich bislang niemand dem Berliner Weg angeschlossen. Für den einstigen Weggefährten Heisigs, Andreas Müller, der auch als „Richter Gnadenlos“ apostrophiert wird, ist dies ein unerträglicher Zustand. Auch deshalb hat er nun ebenfalls ein Buch veröffentlicht, mit dem er dem Vermächtnis Kirsten Heisigs Nachdruck verleihen will und das er nun in der Urania Berlin vorstellte.

Bei dieser Gelegenheit räumte Müller auch mit der Verschwörungstheorie über den Tod Kirsten Heisigs auf. Die konkreten Schilderungen seiner letzten Begegnungen mit Heisig, in denen sie bereits „mit glänzenden Augen“ den Freitod als Option ausmalte, berühren manchen im Publikum sichtlich. Müller war nach Heisigs Tod so angegriffen, daß er sich in eine Klinik begab.

Diese Auszeit wie auch die Begegnung mit der Schwester des am Alexanderplatz totgetretenen Jonny K. veranlaßten ihn, ebenfalls zur Feder zu greifen.

Denn die öffentliche Entwarnung, weil die Statistik eine vermeintlich abnehmende Jugendkriminalität dokumentiere, täusche. Tatsächlich sei die Anzahl der schweren Körperverletzungen in Deutschland im Jahr 2007 mit 60.000 nur wenig höher als die aktuelle mit 53.000 Delikten. Hier von einer Verbesserung zu sprechen, ist aus Müllers Sicht zynisch. Bei vernünftiger Zusammenarbeit der einzelnen Behörden und einer größeren Flexibilität der Richter bei der Verhängung des Strafmaßes könnte diese Zahl um fünfzig Prozent gesenkt werden, glaubt Müller.

Ein härteres Strafmaß, wie von „rechten Sozialromatikern“ gefordert, helfe aber überhaupt nicht. Entscheidend sei die konsequente Anwendung der bestehenden Strafmaße. Die Schuld dafür, daß diese kaum zur Anwendung kämen, liege an der Dominanz der „linken Sozialromantiker“. Besonders einflußreich seien hier die fragwürdigen Studien des Kriminologen Christian Pfeiffer. Dieser hatte erst jüngst in der Süddeutschen Zeitung die Publikationen von Heisig und Müller als „Grusel-Literatur“ denunziert.

Im Ergebnis herrsche seit zwei Jahrzehnten das Dogma, auf Haftstrafen möglichst zu verzichten, da diese auf den Täter nur eine negative Wirkung hätten. Hieraus, so Müllers Anklage, resultiere eine „reine Täterperspektive“, aus der die Opfer nur mehr als „reiner Kollateralschaden“ erschienen. So kenne er einen Kollegen, der sich rühme, noch nie eine Haftstrafe verhängt zu haben. Müller schätzt, daß deutschlandweit jährlich Zehntausende Verfahren zur vermeintlichen Entlastung der Justiz eingestellt würden.

Bezeichnend für die allgemeine Schizophrenie sei auch die unterschiedliche Wahrnehmung in der Öffentlichkeit: Während Müllers harte und kreative Urteile gegen gewalttätige rechte Skinheads, denen er zum Beispiel das Tragen von Springerstiefeln verbot, weithin gelobt wurden, weil sie sich gegen den „politischen Feind“ richteten, sei Kirsten Heisig für ihre resoluten Urteile im moslemischen Zuwanderermilieu scharf kritisiert worden. Bei ihrer allerletzten Begegnung, so Müllers bittere Erinnerung, habe Heisig zum Abschied gesagt: „Du und ihr müßt noch viel mehr machen, als ihr im Augenblick glaubt.“

Und dies beginne bereits in Brandenburg. Dort, so Müller, renne er mit dem „Neuköllner Modell“ gegen verschlossene Türen. Entsprechend agiere auch das linke politische Lager: „Rot, Grün und Rot-Rot“ seien gegen den Warnschuß-Arrest. Verlogen seien im Prinzip aber alle Politiker, mit denen er bei Diskussionen zusammentraf: Im Gespräch vor Beginn der Talkshow seien alle nett zu ihm, um in der Sendung nicht von ihm angegangen zu werden. Nach der Sendung aber sei seine Position völlig irrelevant, das wirkliche Interesse gleich Null.

In Holland, England und den skandinavischen Ländern hingegen funktioniere die Vernetzung zwischen den einzelnen Behörden ganz gut. Hierzulande gelte immer noch „Datenschutz vor Opferschutz“ oder – wie Heisig es definierte – „Datenschutz vor Kinderschutz“. Am Ende berichtet Müller, der in seinen zwanzig Jahren als Jugendrichter über 12.000 Verfahren bearbeitet hat, von einem Erlebnis nach einem Vortrag vor chinesischen Verfassungsrichtern: Diese hätten über die Milde des deutschen Rechtssystems nur gelacht.

Andreas Müller: Schluß mit der Sozialromantik!: Ein Jugendrichter zieht Bilanz. Herder, Freiburg 2013, gebunden, 240 Seiten, 16,99 Euro

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