© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Ein Unglück kommt selten allein
Italien: Migrationsströme bringen das Land in die Schlagzeilen, Regierungskrise und Mißwirtschaft geraten dabei in den Hintergrund
Paola Bernardi

Schande“, so lautete die heftige Reaktion von Papst Franziskus, als er von der jüngsten Tragödie vor der Insel Lampedusa erfuhr. 200 Tote, dazu noch Dutzende Vermißte, – dies ist die vorläufige Bilanz einer der schlimmsten Flüchtlingstragödien, die sich in den letzten Jahren auf dem Mittelmeer ereignete. Die meisten der illegalen Einwanderer kamen aus Eritrea und Somalia.

Der italienische Innenminister, Angelino Alfano (PDL), will Lampedusa für den Friedensnobelpreis vorschlagen. Nach diesem Drama beginnt wieder die Debatte über die europäische Einwanderungspolitik. Nicht nur die aus dem Kongo stammende italienische Integrationsministerin, Cécile Kyenge, folgerte, daß es nun ein Ende mit den repressiven Maßnahmen haben müsse. Der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crépeau, sowie der Präsident des EU-Parlaments Martin Schulz (SPD), der explizit auf die Solidarität der EU-Staaten mit Italien sowie auf die „humanitäre Verantwortung gegenüber den Flüchtlingen“ verwies, bliesen ins gleiche Horn.

Vor allem in Italien führte das Bootsunglück zu einer erhitzten Debatte um die Einwanderungspolitik der Regierung. Die oppositionelle Lega Nord schob Cécile Kyenge die Hauptschuld zu. Habe die sich doch, so die Lega weiter, gerade in der vergangenen Zeit für eine Lockerung des geltenden Einwanderungsgesetzes stark gemacht.

Auch die Präsidentin der Abgeordnetenkammer, Laura Boldrini, ehemalige UNHCR-Sprecherin, wurde wegen ihrer Appelle zur Aufnahme der Flüchtlinge scharf angegriffen. Kyenge und Boldrini seien für das jüngste Drama mitverantwortlich, erklärte der Vizepräsident der der Lega, Gianluca Pini. „Sie verbreiten heuchlerische Integrationsslogans, statt mit konkreten Taten die Drittweltländer zu unterstürzen. Sie haben die ums Leben gekommenen Migranten auf dem Gewissen“, so der schwere Vorwurf. Und die rechtskonservative Berlusconi-Zeitung Il Giornale titelte: „Dreihundert Tote durch Gutmenschentum“.

Es ist ein trauriger Herbstbeginn in Italien. Denn auch in Politik und Wirtschaft zeichnen sich düstere Perspektiven ab. Seit Frühjahr 2013 führt Enrico Letta von der linken Partito Democratico (PD) eine Große Koalition, die von der Berlusconi-Partei Popolo della Libertà (PDL) in großen Teilen unterstützt wird. Doch gerade diese mutierte in den letzten Wochen zu einem unsicheren Kantonisten. Vor allem das Hin und Her des wegen Steuerhinterziehung verurteilten Parteigründers Silvio Berlusconi vor der Vertrauensfrage über die Zukunft der Regierung Letta offenbart fehlende Geschlossenheit. Auf der einen Seite die „Falken“ unter der Führung von Sandro Bondi, ehemaliger Kulturminister, und vor allem der energischen Abgeordneten Daniela Santanchè (die „Schlange“). Sie scheinen in Nibelungentreue fest mit Berlusconi verbunden.

Auf der anderen Seite stehen die sogenannten „Gemäßigten“ unter der Führung des ehemaligen Kronprinzen von Berlusconi, des derzeitigen Innenministers Angelino Alfano. Aber auch der ehemalige Christdemokrat Carlo Giovanardi sowie der Präsident der Lombardei, Roberto Formigoni, gehören zu den Befürwortern einer neuen konservativen Partei. Sie werfen der PDL vor, zu rechtspopulistisch und eurokritisch zu sein. Ihnen schwebt die Wiederauferstehung der früheren Democrazia Cristiana vor.

Aber auch in Lettas linken PD gibt es nicht unerhebliche Richtungskämpfe. So versucht sich der 38jährige, beim Publikum beliebte, links-liberale Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, als Alternative zum eher spröden Ministerpräsidenten Letta in Stellung zu bringen.

All die Entwicklungen werfen kein gutes Licht auf die Lage des Landes. Gegenüber der EU bei den Themen Wirtschaftswachstum und Sparsamkeit der öffentlichen Hand in der Pflicht, sind kaum Fortschritte zu verzeichnen. Hohe Steuerlasten, eine schwerfällige Bürokratie, renitente Gewerkschaften und mangelnde Rechtssicherheit blockieren weiterhin fällige Investitionen und Wachstum. Das Defizit liegt in diesem Jahr nicht, wie es der frühere eingesetzte Ministerpräsident Mario Monti versprochen hatte, bei Null, sondern schwankt um drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Die Schuldenquote liegt bei fast 135 Prozent des BIP. Die Arbeitslosenquote stieg von 8,4 Prozent (2011) auf zwölf Prozent an. Geradezu dramatisch ist die Jugendarbeitslosigkeit, die im Juni ein Rekordhoch von 39 Prozent erreichte. Die Zahl der beschäftigten Italiener unter 35 Jahren ist zwischen 2010 und 2013 von 6,3 auf 5,3 Millionen geschrumpft. Selbst in Sardinien, berühmt für seine Strände, liegt die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 51 Prozent. Papst Franziskus besuchte die Hauptstadt Cagliari und warnte vor dem „Gott des Geldes“: „Wo es keine Arbeit gibt, gibt es auch keine Würde“. „Schande“, rief der Pontifex auch hier den Jungen zu.

Foto: Integrationsministerin Cécile Kyenge und Lampedusas Bürgermeisterin Giusi Nicolini (r.): Nach dem Bootsunglück werden auch in Italien Stimmen laut, die die „repressive“ Zuwanderungspolitik kritisieren

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