© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Schmerzhafte Anpassungen
USA: Blockade zwischen Demokraten und Republikanern löst Haushaltsnotstand aus / Erneuter Streit um Erhöhung der Schuldenobergrenze
Georg Bernhard

Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still. Wenn dein starker Arm es will!“ So beginnt das Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, aus dem schließlich die SPD hervorging. 150 Jahre später sind viele Träume der Arbeiterbewegung geplatzt, doch die Worte Georg Herweghs lassen sich auf die aktuelle Situation in den USA übertragen – nur daß dort nicht Arbeiter, sondern Politiker die öffentlichen Räder stillstehen lassen.

Seit 1. Oktober, dem Beginn des Haushaltsjahrs 2014, sind Bundesverwaltungen im Notbetrieb, öffentliche Gedenkstätten und Museen geschlossen, Nationalparks weisen Besucher ab. Etwa 800.000 Staatsdiener genießen Zwangsurlaub. Eine Asienreise von Präsident Barack Obama und Gespräche über das Freihandelsabkommen mit der EU (JF 28/13) wurden vertagt. Selbst 70 Prozent des Überwachungsapparats sollen laut Geheimdienstdirektor James Clapper vom Government Shutdown betroffen sein. Nur die 1,4 Millionen US-Soldaten, die Flugsicherung, die Haftanstalten und die Grenzkontrolle werden vom Haushaltsnotstand nicht direkt tangiert.

Glaubt man der zweitgrößten Zeitung USA Today – eine Art Bild mit Börsenteil –, dann kostet der staatliche Stillstand die Wirtschaft pro Stunde 12,5 Millionen Dollar. Der sekündlich aktualisierte Kostenzähler auf der Internetseite Usatoday.com summiert sich auf über zwei Milliarden Dollar. Ursache sind die konträren Mehrheitsverhältnisse im Kongreß: Im Senat dominieren Obamas Demokraten, im Repräsentantenhaus die Republikaner. Letztere lehnen die jetzt in Kraft getretene Krankenversicherungspflicht („Obamacare“) als „sozialistischen“ Eingriff in die Privatautonomie ab. Da das Oberste Gericht, der Supreme Court, die Reform nicht stoppen wollte, blockieren die Republikaner nun das Budget.

Doch trotz aller Aufregung ist das wirklich relevante Datum der 17. Oktober. Dann sind die Kassenbestände niedriger als die Zahlungsverpflichtungen, Staatsanleihen werden fällig. Daher muß die Schuldenobergrenze von derzeit 16,7 Billionen Dollar erneut angehoben werden – zum zweitenmal in diesem Jahr (JF 8/13). Im vergangenen Haushaltsjahr deckten die US-Einnahmen nur etwa 80 Prozent der Ausgaben. Sollte es kommende Woche keinen Kompromiß geben, drohen „katastrophale Auswirkungen“ auf die weltweiten Finanzmärkte, warnt nicht nur die US-Notenbank Fed. Selbst ein kurzfristiger Zahlungsausfall hätte schlimmere Konsequenzen als die Lehman-Pleite 2008, denn die USA sind der weltgrößte Kapitalimporteur. Da die moderaten Republikaner aber im Gegensatz zu den Tea-Party-Aktivisten keinen Staatsbankrott riskieren wollen, dürften sie früher oder später irgendeinem „Deal“ zustimmen.

Doch kann sich das Schuldenkarussell wirklich unendlich weiterdrehen? Die Finanzprüfbehörde des US-Kongresses (CBO) rechnet für die nächsten zehn Jahre mit weiter steigenden Defiziten und für 2023 mit einer Bundesverschuldung von über 26 Billionen Dollar. Die Ökonomenschar liefert unterschiedliche Antworten auf die Frage, was passiert, wenn eine Volkswirtschaft hochverschuldet ist. Geht das Wachstum zurück? Steigt es? Oder geschieht gar nichts?

Argumente für die fiskalischen Falken lieferten 2010 die Harvard-Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff im American Economic Review. Auf nur sieben Seiten kommen sie zu dem Ergebnis: „Analysiert über zwei Jahrhunderte hinweg, betrug das durchschnittliche Wachstum in 20 entwickelten Volkswirtschaften bei einer Verschuldung von mehr als 90 Prozent des jährlichen Bruttosozialproduktes im Schnitt 1,7 Prozent. Liegt die Verschuldung unter 30 Prozent, dann beträgt das Wachstum 3,7 Prozent; liegt sie zwischen 30 und 90 Prozent, dann bewegen sich die Wachstumsraten knapp über drei Prozent.“ Noch eindrucksvoller waren ihre Schlußsätze: „Wir haben untersucht, welche Erfahrungen 44 Länder über zwei Jahrhunderte mit Staatsverschuldung, Inflation und Wachstum gemacht haben. Unser Hauptergebnis besagt, daß in Industriegesellschaften genauso wie in Schwellenländern eine hohe Staatsverschuldung mit deutlich niedrigeren Wachstumsraten einhergeht. Kaum jemals ’entwachsen‘ Staaten ihren Schulden von selbst. Erreichen Länder die Toleranzgrenze bei den Schulden, dann können die Zinsen ganz plötzlich anfangen zu steigen, was zu schmerzhaften Anpassungen führt.“

Der Aufsatz „Growth in a Time of Debt“ (Wachstum in Zeiten der Verschuldung) wurde tausendfach zitiert. Nun schien empirisch belegt, daß hohe Staatsverschuldung zu niedrigem Wachstum führt, wodurch ein Teufelskreis in Gang gesetzt wird: Genau in dem Moment, in dem ein hochverschuldetes Land ein besonders starkes Wirtschaftswachstum benötigte, um seine Schulden zu reduzieren, schwächen eben diese das Wachstum so sehr, daß jede Möglichkeit schwindet, den Schuldenberg je wieder abzubauen.

Besonders die Schuldenschwelle von 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) faszinierte Austeritätsverfechter wie den Republikaner Paul Ryan. Doch dummerweise mußten Reinhart und Rogoff am 17. April – einen Monat vor der ersten Aussetzung der Schuldenobergrenze in diesem Jahr – im Wall Street Journal eingestehen, daß sie in ihren Excel-Formeln einige Staaten mit höherem Wirtschaftswachstum schlicht vergessen hatten. Dennoch hielten die beiden Harvard-Ökonomen an ihren Grundaussagen fest. Die schieren Zahlen jedoch geben das nicht mehr ganz her. Während die beiden zuerst behauptet hatten, daß zwischen 1945 und 2009 ab einer Staatsverschuldung von 90 Prozent das Wachstum negativ gewesen sei und im Schnitt bei -0,1 Prozent gelegen habe, kommt Thomas Herndon von der University of Massachusetts zu dem Schluß, daß bei dieser Verschuldungsrate immer noch ein jährliches Wachstum von 2,2 Prozent möglich sei. Der ganze Wirbel nutzt nun den Schuldenpolitikern im Kongreß, die genüßlich auf die Reinhart-Rogoff-Fehler verweisen können.

Dieser Hickhack um Schulden und akademische Eitelkeiten zeigt zweierlei: Die Zukunft läßt sich aus der Vergangenheit nicht prognostizieren; wer es dennoch machen will, sollte rechnen können. Und: Niemand muß 50 Länder vergleichen, um zu wissen, daß Wachstum auf Dauer nicht auf Pump zu finanzieren ist. Doch auch hier ließe sich einwenden: Die USA können das – zumindest solange ihr Dollar Weltwährung Nummer eins ist (JF 37/13).

Schuldenanalyse von Thomas Herndon: peri.umass.edu/f

Kommentar Seite 12

Foto: Touristen vor geschlossener Freiheitsstatue: US-Staatseinnahmen decken nur 80 Prozent der Ausgaben

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen