© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Freiwillig dem Drill ausgeliefert
Dokumentarfilm: „Einzelkämpfer“ zeigt den Lebensalltag von vier ehemaligen DDR-Spitzensportlern vor und nach der Wende
Sebastian Hennig

Dokumentarfilme enthalten oft einen Widerspruch in sich. Während eine fiktive Handlung unmittelbares Geschehen vorgaukeln darf, sind sie verpflichtet, ernsthaft zurückzublicken, und beobachten zugleich den Menschen beim Zurückschauen. Die verstrichene Zeit, die antiquierte modische und ideologische Prägung von Archivaufnahmen und die unterschiedlichen Perspektiven der Befragten bewirken eine Vielzahl von Facetten und Brüchen, auf denen Verklärungen, Mythen und Umdeutungen siedeln.

Besonders Dokumentationen über die politischen Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts leben häufig von deren Selbstinszenierung. Sandra Kaudelka ist es mit „Einzelkämpfer“ gelungen, solches Material einzubinden, ohne ihm die Deutung zu überlassen. Die Aufnahmen von den durchchoreographierten Turn- und Sportfesten in Leipzig prunken mit gigantischen Schaubildern aus farbigen Menschenmassen. Dagegen wirken die Reportagen über Privatleben und Training jener Jahre fast rührend unbeholfen.

Vier ehemalige Leistungssportler der DDR werden recht unbefangen befragt über ihre Motive, Erlebnisse und Empfindungen. Der Film enthält keine Kernthese. Sensationsgier ist der Autorin fremd, dafür ist sie zu vertraut mit den Umständen. Als Wasserspringerin hat sie eigene Erfahrungen gemacht. Im fünften Lebensjahr geriet sie in die Zucht der Sportförderung mit harten Trainingsprogrammen. Sie berichtet nebenbei, wie später eine mehrwöchige kollektive Leistungsverweigerung der Kinder durch das perfekte Räderwerk sportlicher Erfolgsbewirkung einfach überrollt wurde.

Erst die politische Wende brachte ihr die Befreiung vom ungeliebten Sport. Kurz zuvor wurde die 12jährige noch Meisterin ihrer Altersklasse im Wasserspringen. Den Geruch chlorierten Wassers hat sie inzwischen erfolgreich hinter sich gelassen. Der Absprung in eigene Gewässer ist ihr geglückt. „Einzelkämpfer“ ist der Abschlußfilm ihres Regiestudiums an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin.

Sie gesteht, ihre Protagonisten damals verehrt zu haben und heute noch immer zu verehren: „Die haben teilweise Wahnsinniges geleistet und kaum jemand kennt sie.“ Auf systematisches Doping kommt das Gespräch erst im letzten Drittel des Films. Seinen Inhalt darauf zu beschränken, wie es nach der Premiere auf der diesjährigen Berlinale geschah, ist gewiß Unfug und zeigt die mangelnde Bereitschaft, genau zuzuhören, hinzusehen.

Als Sensation wurde dabei die Äußerung des Kugelstoßers Udo Beyer gewertet, der nicht zum ersten Mal bekannte, derartige Maßnahmen selbst mitgetragen zu haben. „Jeder war ein Einzelkämpfer“, stellt die ehemalige Sprinterin Ines Geipel fest und gibt damit das Motiv für den Film vor.

Etwas anders sieht es freilich bei den Kindern aus. Allerdings wäre da zunächst nach der Verantwortung der Eltern zu fragen, die ihren Nachwuchs freiwillig auslieferten. Kaudelka hält das Sportregime der DDR für „viel perfider und subtiler als dargestellt, und somit gehen die Probleme, die sich daraus ergeben, weit über die vielzitierte Dopingpraxis hinaus. Andererseits werden diese einseitige Rezeption und die Unterteilung der Sportler in Täter und Opfer den unglaublichen körperlichen und mentalen Leistungen einer Vielzahl von Menschen nicht gerecht. Für mich stand immer die Frage im Raum, warum es tatsächlich so viele gab, die sich dem Drill und dem Druck freiwillig ausgeliefert haben. Oder wurden sie auch gezwungen, so wie ich?“ Der Film läßt diese Frage unbeantwortet.

Der Olympiasieger Udo Beyer bezeichnet den Leistungssport jener Jahre als Kapitalismus im Sozialismus. Der Riese an Körperkraft war der typische kleine Mann aus dem Volke. Sport war für die Familie Beyer eine Selbstverständlichkeit. Die Privilegien und Entwicklungsmöglichkeiten einer großen Laufbahn waren verlockend. Das begann mit dem ersten Besuch in der Sportschule, wo es Früchte in Fülle gab, die in den Läden selten zu haben waren: „Essen können, was man will.“ Zur jährlichen Geburtstagsfeier für Erich Honecker durfte der NVA-Sportoffizier wegen des ungünstigen Größenverhältnisses zum Staatschef nicht anwesend sein.

Heute betreibt er mit seiner Tochter in Potsdam ein Reisebüro. Er ist der extrovertierte Pragmatiker geblieben: „Träumen, träumen darf man, aber sollte man nicht im Leben.“ Hinter seinem breiten Rücken hängt eine Weltkarte an der Wand und ein Plakat ferner Inseln mit dem Spruch: „Mehr Zeit für Entspannung.“

Die Extreme der Wahrnehmung tun sich auf, wenn er äußert, seine Erfolge galten nicht nur dem Herrn Honecker, sondern 17 Millionen anderen Menschen, während die Wasserspringerin Brita Baldus empfand, die Hymne würde nur für sie allein gespielt. In jenem Augenblick habe sie nur an sich gedacht. Nahaufnahmen zeigen, wie ihr dabei auf dem Siegerpodest die Tränen in die Augen steigen. Als jüngste der vier konnte sie noch für das wiedervereinigte Deutschland antreten.

Zuletzt schildert sie, wie sie durch eine Postwurfsendung in den Schoß der Kirche gelangte. Erst bestellte sie eine kostenlose Bibel, dann ließ sie sich taufen. Nun wirkt sie im Kirchenchor an einer Aufführung der schwierigen geistlichen Musik eines zeitgenössischen Komponisten mit.

Ines Geipel ist heute Professorin an einer Schauspielschule. Mit dem Thema des DDR-Leistungssports bleibt sie gleichwohl eng verbunden, als Zeugin im Doping-Prozeß und durch ihr exemplarisches Schicksal. Als sie sich in den mexikanischen Geher Ernesto Canto verliebte, witterte die Stasi ihre Fluchtabsichten und beendete 1985 die Laufbahn. Während einer vorgetäuschten Blinddarmoperation wird sie mit einem langen Bauchschnitt durch alle Organe und das Muskelgewebe „für längere Zeit auf Eis gelegt“, wie die Akten ungenau andeuten. Das ganze Ausmaß des Eingriffs wird erst viel später durch eine Nachoperation offenbar. „Ich habe die Teilung des Landes im Bauch ausgetragen“, sagt sie.

Foto: DDR-Wasserspringerin Brita Baldus: Bei der Nationalhymne stiegen ihr die Tränen in die Augen

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