© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Fünfprozenthürde
Im Vergleich die beste Methode
Werner Patzelt

Die Zweitstimmenanteile von nicht in den Bundestag gelangten Parteien lagen jahrzehntelang kaum über fünf Prozent. Doch nun blieben gleich zwei Parteien knapp unter der Sperrklausel. Das läßt fast jeden zehnten Wähler von Nicht-Splitterparteien ohne Vertretung im Parlament. Kann ein Demokrat derlei hinnehmen? Tatsächlich spiegeln sich im Bundestag nun nicht mehr perfekt die Parteipräferenzen der Wähler. Ist letzteres aber die vorrangige Aufgabe eines Parlaments?

Durchaus nicht hängt demokratische Legitimität von exakt proportionalen Mandatszahlen ab. Auch ist die Stimmenverteilung am Wahltag nur eine Momentaufnahme. Im Frühjahr 1999 bezweifelte niemand die Legitimität der rot-grünen Bundesregierung, obwohl sie damals bei Wahlen glatt verloren hätte. Und es bestreitet ebenfalls keiner die Legitimität des britischen Parlaments, selbst wenn hinter seiner Mehrheit nur eine Minderheit der abgegebenen Stimmen steht und dritte Parteien im Unterhaus deutlich unterrepräsentiert sind.

Warum kritisiert das niemand grundsätzlich? Ein Parlament ist eben mehr als ein Gremium bloß zur Repräsentation politischer Positionen. Vor allem hat es Macht auszuüben. Das gelingt um so besser, je weniger es zersplittert ist. Nötig ist das vor allem für Regierungssysteme, in denen – wie bei uns – die Hauptaufgabe des Parlaments darin besteht, eine stabile Regierung hervorzubringen und im Amt zu halten. Dafür ist es vorteilhaft, nicht allzu viele Fraktionen im Parlament zu haben.

Außerdem wird eine regierungstragende Mehrheit gerade so lange stabil sein, wie die Regierung im großen und ganzen das tut, was die regierungstragenden Fraktionen zu akzeptieren bereit sind. Dieser Kernmechanismus des seinetwegen „parlamentarisch“ genannten Regierungssystems hat zunächst einmal wenig mit Demokratie zu tun. Es entstand dieses System ja schon zu vordemokratischen Zeiten, nämlich im England des 18. Jahrhunderts. Auf demokratische Grundlage wurde es erst gestellt, seit die Abgeordneten in demokratischen Wahlen gewählt werden.

Das geschieht in alten politischen Systemen, etwa dem englischen oder dem der USA, durch Wahl je eines Abgeordneten pro Wahlkreis, was meist zu Zwei-Parteien-Systemen führt. Jüngere politische Systeme erweiterten den Wunsch nach Demokratie dahingehend, das Parlament insgesamt solle die politische Meinungsverteilung der Bevölkerung widerspiegeln. Das erreicht man durch ein Verhältniswahlrecht, das zu Mehr-Parteien-Systemen und Mehr-Fraktionen-Parlamenten führt. Mit ihnen erzeugt man aber Probleme für die Bildung regierungstragender Koalitionen.

Vier Auswege gibt es dann. Erstens kann man in der Form einer Allparteienregierung alle Parlamentsfraktionen proportional zu ihrer Mandatszahl mit Regierungsämtern ausstatten. Dann aber entfallen jene Vorteile, die eine klar erkennbare parlamentarische Opposition beschert. Zweitens läßt sich ein präsidentielles Regierungssystem einführen, bei dem der Staats- und Regierungschef vom Volk gewählt wird, also dafür keiner Parlamentsmehrheit bedarf. Dann ist aber nicht auszuschließen, daß beim Regieren genau jene Mehrheit fehlt, die der Regierungschef zur Durchführung jener Politik bräuchte, für die er gewählt wurde. Ein Zugewinn an Demokratie entsteht so nicht.

Und dieses Problem wird nur vergrößert, wenn man – drittens – im parlamentarischen Regierungssystem auf Minderheitsregierungen setzt, also auf solche, die sich im Parlament wechselnde Mehrheiten suchen müssen, ja obendrein stets vom Sturz bedroht sind. Viertens aber kann man versuchen, durch Sperrklauseln die Anzahl der Parlamentsfraktionen klein zu halten, indem man nur solche Parteien ins Parlament läßt, hinter denen ein Mindest­anteil von Wählern steht.

Im Vergleich scheint das die beste Methode zu sein, ein parlamentarisches Regierungssystem auf demokratischer Grundlage zu schaffen. Freilich hat sie Grenzen. Etwa mögen selbst vergleichsweise wenige Parlamentsfraktionen einander so abgeneigt sein, daß kein Zusammenschluß zu einer regierungstragenden Mehrheit gelingt. Dieses Problem löst aber auch ein Verzicht auf Sperrklauseln nicht. Das übergeordnete Ziel der Sicherung von Regierungsstabilität sollte man nie vernachlässigen und sich auch nicht von parteilichen Überlegungen zum Einschluß oder Ausschluß von Konkurrenten leiten lassen.

Es wäre schlecht, allzu viele Minderheiten dauerhaft zu parlamentarischen Akteuren zu machen. Deren schwierige Koordination führte nämlich im Parlament rasch zur Bildung intransparenter oligarchischer Führungsstrukturen. Dann aber hätte man einen bloß vermeintlichen Teufel durch den realen Beelzebub ausgetrieben.

 

Prof. Dr. Werner J. Patzelt, Jahrgang 1953, ist Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der TU Dresden. Seit 1992 hat er dort den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich inne. Er ist Mitglied im Kuratorium der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.

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