© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Das Fiasko eines Emporkömmlings
Andreas Platthaus hat der vor zweihundert Jahren stattgefundenen Völkerschlacht bei Leipzig eine Monographie gewidmet
Herbert Ammon

Geschichtsdaten stehen im Dienste höherer Zwecke, dereinst des Vaterlands, heute der Zivilgesellschaft. Im Jahr 1913, das neue Deutsche Reich erstrahlte im Glanz seiner Macht, fand das Gedenken Ausdruck in der Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals.

Zu DDR-Zeiten diente „1813“ der Beschwörung russisch-deutscher Waffenbrüderschaft sowie der Pflege sozialistischen Nationalstolzes. Noch 1988 errichtete man zum 175jährigen Jubiläum im Südosten Leipzigs einen von einer Kanonenkugel gekrönten Obelisken, geziert mit russischem Doppeladler, preußischem Wappentier und Inschriften auf deutsch und russisch. Zum diesjährigen Jubiläum steht Leipzig im Zeichen völkerversöhnenden Gedenkens.

Vor diesem Hintergrund erschien das Buch des FAZ-Feuilletonredakteurs Andreas Platthaus im Juli, das nun bereits in dritter Auflage vorliegt. Die Darstellung setzt ein mit der Exposition des Schlachtendramas. Nach der Katastrophe des Rußlandfeldzuges hatte Napoleon eine neue Armee rekrutiert, deren Truppen im Mai 1813 bei Großgörschen und Bautzen neue Siege erzielten. Vom 4. Juni bis zum 16. August währte der Waffenstillstand, den Napoleon später als gravierenden Fehler bezeichnet. In dessen Verlauf kam es in Dresden zu der Unterredung mit dem österreichischen Außenminister Metternich, wo der Franzosenkaiser bekannte: „Ich bin nur ein Sohn des Glücks. Ich würde von dem Tag an nicht mehr regieren, an dem ich aufhörte, stark zu sein, an dem ich aufhörte, Respekt zu erheischen.“

Wenig später trat Österreich dem russisch-preußischen Bündnis bei, dem in aller Form seit Juli 1813 auch Schweden angehörte. Die schwedischen Truppen kommandierte Graf Bernadotte, der frühere Revolutionsgeneral und Marschall Napoleons, den zuerst die schwedischen Militärs, sodann die Reichsstände 1810 zum Kronprinzen erhoben hatten.

Nach einer gewonnenen Schlacht bei Dresden am 26./27. August und kleineren verlorenen Gefechten suchte Napoleon die Entscheidungsschlacht gegen die von allen Seiten anrückenden Verbündeten: von Norden kamen die Schweden sowie die Preußen unter Blücher, von Osten die Russen unter den Generälen Sayn-Wittgenstein, der nach dem Tod Kutusows den Oberbefehl führte, Barclay de Tolly und Bennigsen.

Von Süden marschierte eine vereinte Armee, bestehend aus Österreichern, Preußen und Russen, unter dem formalen Oberbefehl des Fürsten Schwarzenberg auf die um Leipzig gelagerten Franzosen zu. Bei der Südarmee befanden sich die Monarchen Zar Alexander I., König Friedrich Wilhelm III. und Kaiser Franz II. Zusammen kamen die Verbündeten auf zuletzt weit mehr als 350.000 Mann. Auf der anderen Seite verfügte Napoleon über ein deutlich kleineres Heer, zusammengesetzt aus Franzosen, Polen und den Kontingenten der Rheinbundfürsten. Zu den Kommandeuren zählten sein Schwager Joachim Murat, König von Neapel, Józef Fürst Poniatowski, Neffe des letzten Königs von Polen, Stanislaus II., dazu die Marschälle Augereau, Marmont, Macdonald und Ney.

Leipzig, die reiche Handelsstadt mit 38.000 Einwohnern, hatte der „Empereur“ als Versorgungszentrum der geplanten Abwehrschlacht gewählt. Die Stadt stand seit Anfang Juni unter Kriegsrecht mit General Bertrand als Stadtkommandanten. Um die Loyalität des sächsischen Königs Friedrich August, der ihm die Königskrone verdankte, zu sichern, beorderte Napoleon ihn nach Leipzig, wo er im Thomäischen Haus am Marktplatz Quartier bezog. Dort setzten ihn am 19. Oktober die Sieger gefangen.

Die Völkerschlacht fand vom 16. bis zum 19. Oktober statt. Eine Vorentscheidung fiel bereits am ersten Tag in wechselvollen Gefechten bei Wachau und Güldengossa zugunsten der Alliierten. Am Montag, den 18. Oktober, wechselten Württemberger und Sachsen die Seite; die Alliierten schlossen den Ring um die Stadt – bis auf das Ranstädter Tor. An dieser Stelle gelang Napoleon am 19. Oktober der Ausbruch. Zur Sicherung des Rückzugs wurde – womöglich vorzeitig – die Elsterbrücke gesprengt, was den zahllosen Zurückgebliebenen zum Verhängnis geriet. Einer von ihnen war Fürst Poniatowski, dessen Pferd beim Eintauchen in die angeschwollene Elster ausglitt und den General erdrückte.

Zahllose andere, zur Plünderung taugliche Ertrunkene zogen die Sieger aus dem Wasser. Auf den Schlachtfeldern und danach in den Lazaretten der Stadt verloren über 100.000 Mann ihr Leben. Die Schilderung der Szenerie – Regen, Kälte, Hunger, Schlamm, Blut und Todesqualen – sowie dramatischer Einzelszenen, etwa der Auftritt der blutigen Schrecken verbreitenden englischen Rocketeers, gehört zu den Stärken des Buches. Es wird abgerundet durch Impressionen des Autors bei einer an den Oktobertagen 2012 unternommenen Besichtigungstour zu den Orten und Monumenten der Schlacht.

Und doch: Bei aller Anschaulichkeit des blutigen Geschehens gerät die Lektüre zuweilen in die Nähe leichter Unterhaltung.Wo in einem ganzen Kapitel die Begegnung des Kriegsheros Napoleon und des Dichterfürsten Goethe beim Erfurter Fürstentag 1808 geschildert wird, kommt zwar die Eitelkeit des einen wie des anderen zum Vorschein, aber wenig wird spürbar von der Faszination, die der aus der Revolution triumphal emporgestiegene Korse auf die Zeitgenossen ausübte.

Napoleon Bonaparte war ein Sohn der Aufklärung, er vertraute keinem anderen Gott als dem der Schlachten. Er ließ sich leiten von seinem Stern, anders als die drei in christlicher Glaubenswelt beheimateten feindlichen Monarchen Alexander I., Franz I. und Friedrich Wilhelm III. (laut Platthaus „Traditionalisten“). Zwar ist die Rede vom „charismatischen Genie“ des Kaisers, doch der Napoleon-Mythos bleibt trotz des Bezugs auf den Neffen Napoleon III. blaß. Kein Cäsar, kein „Weltgeist zu Pferde“ (Hegel) tritt vor Augen.

Daß die Völkerschlacht, im historischen Vokabular Englands als battle of nations bekannt, das „Ende der alten Welt“ besiegelte, wie der Untertitel proponiert, ist wenig einleuchtend. Die alte Welt war 1789, genauer: 1792 mit der Kriegserklärung der französischen Nationalversammlung an das alte Reich („an Franz II., König von Böhmen und Ungarn“) zu Ende gegangen. Die These wirkte überzeugender, wenn sie in Verbindung mit den Nationalbewegungen gebracht würde, die das System der Restauration, die vermeintliche „Wiederherstellung“ einer untergegangenen Ordnung, unterguben. Platthaus erwähnt die Karlsbader Beschlüsse, nicht aber das an die Jahre 1517 und 1813 symbolisch anknüpfende Wartburgfest vom 18. Oktober 1817.

Unterbelichtet bleibt in der Schlachtbeschreibung der machtpolitische Hintergrund für das Scheitern des Kaisers der Franzosen: die trotz des Friedens von Amiens (1802) nie zurückgestellte Rivalität Englands. Folglich fehlt der historische Ausblick auf die Konstellation, die hundert Jahre später dem Deutschen Reich – und Europa – zum Verhängnis wurde.

Andreas Platthaus: 1813. Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt. Rowohlt Verlag, Berlin 2013, gebunden, 476 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

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