© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Der Flaneur
Knaben in Karzig
Sebastian Hennig

Eine Klinkermauer mit fortlaufend gemauerten Bögen entwindet sich dem Dickicht und weist zum Horizont. Daneben steht unvermittelt auf der verbuschten Brache ein Stück Pappelallee. Ein antikisches Gefühl steigt auf im polonisierten Ostbrandenburg. Zwei mächtige Rundbauten aus nackten, vom Wetter benagten Ziegeln türmen sich aus dem Strauchwerk hervor. Wurde hier das Grabmal der Cecilia Metella in die Neumark versetzt und sind die Bögen ein römisches Aquädukt? Die Pappeln gleichen dem Zypressenhain auf Böcklins „Toteninsel“.

Das klassizistische Herrenhaus erst zeigt mir, wo ich bin. Mürrisch blicken Ochsenaugenfenster auf verkommenes Gelände. Dieses Karsko heißt auf deutsch Karzig. Polnische Kinder mit geschorenen Köpfen streifen nun durch die Ruinen, wie kampanische Hirtenbuben einst im Tempelbezirk von Paestum.

Ich lasse mich auf einem Schutthügel nieder und zeichne den geheimnisvoll bedeutsamen Ort. Die Knaben nähern sich, stehen still und schauen schweigend. Dann wird ihnen langweilig. Sie trollen sich und gehen spielen. Der Kleinste wird zum Scherz von seinen Kameraden in eine alte Zapfsäule gesperrt, einen Blechkasten mit verblichenem roten Ölfarbanstrich. Seine Stimme ruft dumpf aus dem Inneren, wie die Geister der Vergangenheit. Ein anderer kippelt auf einem großen Konservenglas. Als er die Balance verliert, muß das Ding bestraft werden.

Rasch ist ein neuer Zeitvertreib gefunden: Gläser werden gesucht und mit dumpfem Bersten auf dem Boden zerschellt. Bald nachdem die Kinder sich getrollt haben, lassen sich zwei Halbstarke blicken, die ebenfalls erst einmal neugierig und schweigend zuschauen. Dann verschwinden sie in der verbuschten Ruine. Es ist zu hören, wie sie sich bereden. Bald nähern sie sich zu dritt wieder an. Später kommt ein vierter und ein fünfter dazu. Soviel ungeschlachte Kraft im Rücken macht den Zeichner nervös. Aber auch sie verziehen sich wieder, und ich bleibe allein inmitten der nachsommerlichen Sonne.

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