© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Kampfansage ohne Not
Josef Kraus analysiert Fehler im gleichheitsfixierten Bildungssystem und hält mit Polemik gegen übermotivierte Eltern nicht zurück
Birgit Kelle

Es ist nicht einfach, als Mutter ein Buch wie „Helikopter-Eltern“ von Josef Kraus unvoreingenommen zu lesen – ähnlich wird es allen anderen Eltern gehen, die sich um die Erziehung ihrer Kinder bemühen, und mit einem derartigen Titel sofort in Wallung geraten. Ist es doch ein Affront schon auf dem Cover, ein Angriff auf die eigene Erziehungskompetenz, man nimmt es persönlich.

Um es vorwegzunehmen: Das Buch ist viel besser als sein unsäglicher Titel, und man möchte dem Autor, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, zurufen: Es wäre nicht nötig gewesen, die Eltern auf die Barrikaden zu schicken, um sie dann Kapitel für Kapitel mühsam wieder herunter zu holen. Es ist ein pädagogischer Totalausfall, jemanden zum Einstieg zu beleidigen, um anschließend zu versuchen, ihn sogar als Verbündeten zu rekrutieren. Das würde bei Kindern nicht funktionieren – bei Eltern auch nicht. Da hat der Pädagoge Kraus das Pferd von hinten aufgezäumt.

Und so spart der Autor zum Einstieg nicht mit Kampfrhetorik, um diejenigen Eltern zu beschreiben, die heute ein Zuviel an Erziehung und Aufmerksamkeit an den Tag legen: „Militärische Eingreiftruppe“, „hyperaktive Eltern“, „Beobachtungsdrohnen“, „ehrgeizige Vollzeitgluckenmütter“, „Vaterattrappen“ – 10 bis 15 Prozent der Eltern sollen dies Verhalten inzwischen an den Tag legen und den Pädagogen damit die Zeit rauben.

Woher die Zahlen stammen, bleibt der Autor schuldig, wäre aber interessant gewesen. Und keine Frage, es geht hier nicht nur rhetorisch um die „Lufthoheit über den Kinderbetten“. Bestehen bleibt das Bild von Eltern, die es einfach nicht können, die zuviel leisten, zuwenig leisten, es aber immer falsch machen. Ein gefundenes Fressen für diejenigen, die Eltern als Erziehungslaien abstempeln und heute schon Kinder ganztags von der Wiege an in die professionellen Hände des Staates legen wollen. Seht her! Sogar die Lehrer sagen es schließlich, Eltern können es einfach nicht!

Da hilft es auch nicht, daß Kraus selbst zu mehr elterlicher Erziehung aufruft, zu mehr Zeit für Kinder und weniger schulischem Ganztagsprogramm. Hört, hört! Wenn er darauf hinweist, daß die Mehrheit der Eltern nach wie vor hervorragende Arbeit leistet – denn die Rotorenblätter der Hubschrauber sind im medialen Diskurs das Lauteste, was übrigbleibt und Wasser auf die Mühlen derjenigen Pädagogen, Politiker, Elternflüsterer und Psychologen, die Kraus in den restlichen Kapiteln des Buches als eigentliche Schuldige am Erziehungsdesaster ganz hervorragend entlarvt.

Wenn man es also schafft, dieses Buches über das erste Kapitel hinaus zu lesen, ohne es wutentbrannt in die Ecke zu werfen, entpuppt sich Kraus nämlich als Freund jener Eltern, die mit Gelassenheit und Humor den täglichen Wahnsinn immer wieder aufs neue meistern und sich weder von Psychologen noch von Erziehungsratgebern irre machen lassen. Er räumt auf mit den Ammenmärchen der Hirnforschung, die mit „Synapsenzählerei“ und „Zeitfensterfolklore“ Eltern einreden, sie müßten vom Mutterleib an ihr Kind mit Bildung vollstopfen, um sich nicht am verlorengegangenen Potential ihrer Sprößlinge zu versündigen.

Er geißelt die Elitekrippen mit ihren Chinesisch- und Englischkursen für Zweijährige genauso wie die eigenen Kollegen, die mit einer Spaßpädagogik jegliche Anstrengung aus den Schulen verbannen wollen. Er geißelt, daß sich ein nahezu „heiliger“ Gleichheitsgedanke in der Bildungspolitik eingeschlichen hat und Erziehung zur „Ersatzreligion“ geworden sei für all die „Pisa-Gläubigen“ und Anhänger der „Bologna-Konfession“, die jede Elitenbildung als persönliche Beleidigung auffassen. Dabei sei doch Gleichheit unter Schülern nur durch eine Absenkung des Niveaus zu erreichen.

Die Ursachen für dieses Denken macht Kraus in der Geschichte der Pädagogik aus, die zunehmend psychologisiert und eine „Klinifizierung der Kindheit“ vorantreibt. Erstklassig zeigt er auf, wie die sogenannten „Behavioristen“ die Oberhand gewonnen haben, die glauben, der Mensch sei als „tabula rasa“ geboren und könne anschließend beliebig determiniert, programmiert oder gar nach Pawlow „konditioniert“ werden. Selbstredend, daß nach diesem Konzept immer die Eltern, die Schule, die Umwelt schuld sind, wenn ein Kind nicht nach Plan läuft.

Man möchte applaudieren, wenn Kraus eine Entpolitisierung der Bildung, eine Umkehr im Bildungssystem fordert, das mehr auf Inhalte denn auf den Erwerb immer neuer, zweifelhafter „Kompetenzen“ setzen sollte. Doch wenn er die Eltern zu Hilfe ruft, sie sollten nicht zulassen, daß aus „Lehrplänen“ immer weitere „Leerpläne“ werden, dann möchte man zurückschreien: „Mach’s doch selbst! Wer ist denn hier der Fachmann?“

Daß Helikopter-Eltern über der schulischen Laufbahn ihrer Kinder kreisen, hat seine Ursache nicht selten darin, daß Schule heute oft versagt, ständig mit neuen Konzepten experimentiert und nicht fördert, auch dort, wo sie es verspricht. Nein, man kann als Präsident des Lehrerverbandes nicht bemängeln, daß die außerschulische Nachhilfe so exorbitant anwächst, wenn Politik und die eigene Zunft doch die Eltern zu Getriebenen macht. Und so ist das letzte Kapitel des Buches nahezu tragisch, wenn der Autor mehr Erziehung durch Eltern fordert und die totale Schule geißelt, denn er hat am Anfang ohne Not diejenigen verprellt, die er doch als Verbündete haben will: die Eltern.

 

Birgit Kelle ist Journalistin und Mutter von vier Kindern. Im September 2013 veröffentlichte die Vorsitzende des Vereins Frau 2000plus das Buch „Dann mach doch die Bluse zu. Ein Aufschrei gegen den Gleichheitswahn“.

Josef Kraus: Helikopter-Eltern. Schluß mit Förderwahn und Verwöhnung Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, gebunden, 224 Seiten, 18,95 Euro

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