© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Familien werden übers Ohr gehauen
Der Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert diagnostiziert schonungslos das unsoziale Solidarsystem in Deutschland und wartet mit Therapievorschlägen auf
Jürgen Liminski

Am Dienstag der vergangenen Woche veröffentlichten drei namhafte Institute für Wirtschaftsforschung (DIW, ZEW und Ifo) ihren schon vor Wochen angekündigten Bericht zur Evaluierung der Leistungen in der Familienpolitik der Bundesrepublik. Für den Vorsitzenden Richter am Hessischen Landessozialgericht, Jürgen Borchert, ist dieser 13 Millionen teure Bericht „ein Fall für den Rechnungshof“. Denn die Studie greift wieder unkritisch alte Mythen, Fiktionen und Vorurteile über die Förderung von Familien und Kindern auf und gibt ihnen einen wissenschaftlichen Anstrich. Vielleicht hätten die Forscher vor der Veröffentlichung das jüngste Buch Borcherts mit dem Titel „Sozialstaatsdämmerung“ lesen sollen. Darin werden die neu aufgewärmten Mythen und langlebigen Desinformationen bis ins Detail als solche entlarvt und die tatsächlichen Zusammenhänge dargestellt.

Zum Beispiel im Kapitel 3 (Die Spiegel-Ente vom 200-Milliarden-Irrtum oder Wie der Staat den Familien die Sau vom Hof klaut und drei Koteletts zurückbringt). Nachdem er die einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts zitiert und auf einige von den Forschern offensichtlich nicht benutzte, aber relevante Studien hingewiesen hat, kommt er zu der Schlußfolgerung, daß das „Kindergeld kein Geschenk, sondern die Rückgabe von Diebesgut“ ist, daß die sogenannte „beitragsfreie Mitversicherung ein 21,7-Milliarden-Euro-Irrtum“ ist, daß beim Familienlastenausgleich Frankreich in der Champions-League und Deutschland in der Kreisklasse spielt usw. usf.

Borchert polarisiert gern und nutzt die Sprache als Florett. Aber seine Argumente sind nicht aus der Luft oder aus dem ideologischen Repertoire gegriffen. Die 244 Seiten dieses Buches sind gespickt mit Fakten und Zitaten. Immer wieder belegt und prangert er die „Transferausbeutung der Familien“, „die Umverteilung von unten nach oben, von Jung zu Alt und von Familien zu Kinderlosen“ an. Das Sozialsystem sei todkrank und die Politik repariere nicht, obwohl sie es besser wissen müßte. Das ist fatal. Denn „daß der Gesetzgeber die klaren Urteile der Karlsruher Richter mißachtet, zeigt, daß das Staatsschiff, mit dem wir den Orkanen des Jahrhunderts wohl oder übel trotzen müssen, nicht nur falsch beladen, sondern auch durch und durch morsch ist“.

Borchert beläßt es nicht bei der Analyse, bei der er übrigens auch die fatale Rolle einschlägiger linker Medien und die politische Vernebelungssemantik aufs Korn nimmt. Er sieht in der Dämmerung des Sozialstaats auch eine Herausforderung und nennt vor allem im letzten Drittel des Buches Maßnahmen der ersten Hilfe. Zum Beispiel die sofortige Abkoppelung der Finanzierung von den Löhnen und das Ankoppeln an die Steuerschuld, so wie beim Solidaritätszuschlag. Zur Reform des Sozialstaats gehöre auch, daß die Erziehungsleistung als „generativer Beitrag“ (BVerfG) dem finanziellen Beitrag gleichgestellt werde.

Das ist partiell nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung (2. April 2001) geschehen, aber wie Borchert ausführt, wurden Krankenversicherung und Rentenversicherung mit diesem Geburtsfehler belassen, der auf die Einführung der dynamischen Rente 1957 unter Adenauer zurückgeht. Die verschiedenen Hinweise der Karlsruher Richter in den letzten zwölf Jahren, diesen Geburtsfehler zu beheben und endlich die Erziehungsleistung bei den Beiträgen zu Rente und Krankenkasse finanziell anzuerkennen, stößt bei allen Parteien im Bundestag auf taube Ohren. Schlimmer noch: Die diversen Reformbemühungen vergrößern das Übel. „Ein stärkerer Motor ist fatal, wenn der Kurs falsch ist, die Navigation ist entscheidend.“

Nach Borcherts Meinung hat der alte Sozialstaat ausgedient. Man könne das System zwar noch für einige Jahre reformieren, zukunfts- und demographiefest aber ist es nicht mehr zu gestalten. Der Sozialrichter plädiert daher für eine „Bürgerfairsicherung“, deren Prinzipien er beschreibt und kommt dann zum Schluß: „Politik ist zwar die Kunst des Möglichen, Gerechtigkeit ist aber nicht die Kunst des Unmöglichen. Man muß nur dem Fixstern des Grundgesetzes folgen, das Gleichheit und Freiheit durch Verantwortung verbindet, dann dämmert schon die Morgenröte.“

Jürgen Borchert: Sozialstaatsdämmerung. Riemann-Verlag, München 2013, gebunden, 244 Seiten, 12,99 Euro

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