© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Die Sehnsucht nach der Unschuld
Frisch gepreßt

Mut zur Differenz. Nicht wenige intellektuelle Juden priesen vor 1933, zur Hochzeit der „Assimilation“, die Kraft zur Unterscheidung, den Willen zur Abgrenzung und den Mut zu ethnischer Differenz als die eigentliche „moralische Leistung“ des Judentums. Jude sei man, wie der Religionsphilosoph Franz Rosenzweig dekretierte, als Sohn oder Tochter einer jüdischen Mutter, eben durch „das Blut“. Und einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts, Gershom Scholem, weigerte sich, seine Nichte zu adoptieren, weil sie der Verbindung ihres im KZ ermordeten Vaters mit einer Nichtjüdin entstammte. Das sind nur zwei unter vielen wie nebenher eingestreuten Provokationen, die der FAZ-Redakteur Lorenz Jäger in seinem Buch über die „politische Theologie jüdischer Intellektueller“ für den ebenso miefigen wie „hilflosen Philosemitismus“ hierzulande im Köcher hat. Die schmale, ideenreiche Schrift enthält Stoff für Dutzende Forschungsprojekte, für die aber kein deutscher Soziologe oder Historiker je einen Antrag formulieren würde, gleichgültig, ob es sich um die Aufhellung der Rolle von Juden am mittelalterlichen Sklavenhandel oder die Dominanz jüdischer Investoren im US-Porno-Geschäft handelt. In dieser Häufung brisanter Fragen liegt freilich auch die Schwäche des bunten Werkes, das sich aus Jägers FAZ-Artikeln speist, die sich kaum in die Klammer „politische Theologie“ zwingen lassen. (dg)

Lorenz Jäger: Unterschied. Widerspruch. Krieg. Zur politischen Ideologie jüdischer Intellektueller. Karolinger Verlag, Wien 2013, gebunden, 146 Seiten, 22 Euro

 

Provokateur. Als Erika Steinbach 2010 auf die historische Handbuchweisheit hinwies, das am 1. September 1939 von Deutschland „überfallene“ Polen habe doch schon im März desselben Jahres mit der Mobilmachung begonnen, setzte allenthalben in Medien und Politik Schnappatmung ein. Wie der Historiker Stefan Scheil in seiner Reflexion der polnischen Außenpolitik zwischen 1919 und 1939 aufzeigt, war dieser wenig friedvolle Akt alles andere als eine Episode, sondern Bestandteil einer politischen Maxime. So wurde Warschaus Politik von einer ebenso abenteuerlichen wie anmaßenden Aggressionslust geprägt, die auf „Sammlung polnischer Erde“ weit über die damaligen Grenzen hinaus abzielte und die unweigerlich die Feindschaft fast aller Nachbarstaaten zusätzlich herausforderte. (bä)

Stefan Scheil: Polen 1939. Kriegskalkül, Vorbereitung, Vollzug. Kaplaken Band 37. Verlag Antaios, Schnellroda 2013, gebunden, 96 Seiten, 8,50 Euro Literaturgeschichte

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