© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

„Ich bin es nicht gewesen, Jürgen war’s“
Parteitag: Nach dem enttäuschenden Abschneiden der Grünen bei der Bundestagswahl sind die Fronten in der Partei noch nicht geklärt
Christian Schreiber

Es sind keine guten Tage für die Grünen kurz vor ihrem Bundesparteitag am Wochenende. Zwar könnte die Partei nach Lage der Dinge durchaus als Juniorpartner der CDU für eine schwarz-grüne Koalition in Frage kommen, doch intern hängt der Haussegen schief. Ausgerechnet der Realo-Flügel, der sich Hoffnungen machen durfte, nach dem Scheitern der linken Spitzenfunktionäre Claudia Roth und Jürgen Trittin wieder mehr Einfluß zu gewinnen, übt sich derzeit in Scharmützeln.

Daß die Wirtschaftsexpertin Kerstin Andreae bei der Wahl zur Fraktionsvorsitzenden gegen Katrin Göring-Eckardt verlor, hat viele Parlamentarier verstimmt. Zwar zählen beide zum eher bürgerlichen Flügel, doch galt Andreae aufgrund ihrer wirtschaftspolitischen Kompetenz als geeigneter für einen Neuanfang. Zumal Göring-Eckardt (Spitzname „KGE“) als Spitzenkandidatin zur Bundestagswahl gemeinsam mit Trittin angetreten war und sich in der Folge weigerte, persönliche Verantwortung zu übernehmen. „KGE hat eine klare Botschaft zu Beginn ihrer Rede zum Bundestagswahlkampf: Ich bin es nicht gewesen, Jürgen war’s“, ätzte der ehemalige Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer via Twitter.

Die Wahl zur Ko-Fraktionsvorsitzenden neben Toni Hofreiter vom linken Flügel bestand sie vor allem deshalb, weil sie sich frühzeitig von der Kandidatin Andreae abgrenzte und so bei den Fundis punkten konnte. Artig bedankte sich „KGE“ am Wochenende, indem sie nun auch Sondierungsgespräche mit SPD und Linkspartei forderte.

Das Scheitern Andreaes und denAusbruch Göring-Eckardts nach links schiebt man im Realo-Flügel prompt dem Vorsitzenden Cem Özdemir in die Schuhe. Dieser habe sich nicht eindeutig genug positioniert, zudem sei er als Parteichef ebenfalls für das schlechte Wahlergebnis verantwortlich gewesen. Die offene Machtprobe gegen Özdemir hat bisher niemand gewagt, stammt er doch aus dem einflußreichen Landesverband Baden-Württemberg. Doch innerhalb der Partei gilt ein Denkzettel für den Deutsch-Türken bei der Vorstandswahl als sehr wahrscheinlich.

Unterdessen hat sich der einzige grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann zu Wort gemeldet und dafür geworben, sich stärker am Landesverband Baden-Württemberg zu orientieren. „Die Partei ist aus der Spur geraten“, sagte er dem Spiegel. Er kritisierte, daß die Bundespartei zu wenig von seinem Verband lerne; dieser sei „der mit Abstand erfolgreichste unserer Partei“, werde aber von der Bundesebene „immer mal mit spitzen Fingern“ angefaßt. „Das irritiert mich auch. Unsere Erfolge kommen ja nicht von ungefähr.“ Kretschmann kündigte an, er wolle sich „mehr in die Bundespolitik meiner Partei einmischen“.

Mit Sorge beobachten Mitglieder zudem die neue Bundestagsfraktion. Göring-Eckardt ist im Parlament zwar anerkannt, gilt aber als nicht scharfzüngig genug, um Akzente in der Opposition zu setzen. Sollte es zu einer großen Koalition kommen, wären die Grünen dann kleinste Oppositionspartei im Bundestag. Es steht außer Zweifel, daß Linken-Frontmann Gregor Gysi die Gunst der Stunde nutzen und sich als Oppositionsführer in Szene setzen wird, zumal auch der Hofreiter kein guter Redner ist.

Als wäre die Situation nicht verworren genug, wird die Partei von einem neuen Pädophilie-Fall erschüttert. In der vergangenen Woche wurde der Büroleiter des Bundestagsabgeordneten Tom Koenigs festgenommen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Kindesmißbrauch in rund 160 Fällen vor. Ausgelöst wurde die Festnahme durch Koenigs selbst, der einen anonymen Brief mit Vorwürfen gegen seinen Mitarbeiter an die Polizei weiterleitete. Der Politologe Stephan Klecha, der im Auftrag der Partei die Pädophilie-Vorfälle aus der Gründerzeit untersucht, will indes keinen Zusammenhang zwischen dem Vorfall in Hessen und der generellen Debatte sehen. „Einen Zusammenhang zwischen den einstigen Pädophiliedebatten bei den Grünen und der nun festgenommenen Person können wir nach jetzigem Forschungsstand nicht ausmachen.“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen