© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

„Das ganze Vaterland“
Völkerschlacht: Vor 200 Jahren wurde der Grundstein dafür gelegt, daß Deutschland zwei Generationen später eine Nation werden konnte
Karlheinz Weissmann

Es war die bis dahin größte Schlacht der Weltgeschichte: Sie dauerte vier Tage, vom 16. bis zum 19. Oktober 1813, mehr als 400.000 Mann standen im Kampf, mehr als 90.000 Gefallene und Verwundete waren zu beklagen. An der bald so genannten „Völkerschlacht“ waren mehr als zwei Dutzend Nationen beteiligt, die Franzosen und ihre Verbündeten oder zum Beistand gepreßte Truppen auf der einen Seite, die alliierten Armeen Preußens, Österreichs, Württembergs, Schwedens und verschiedener deutscher Staaten auf der anderen Seite.

Ohne Zweifel kann man von einem Entscheidungskampf sprechen: die Niederlage Napoleons bei Leipzig bedeutete faktisch auch das Ende seiner Herrschaft, trotz des sich noch bis 1814 hinschleppenden Kampfes, trotz seiner kurzfristigen Wiederkehr aus der Verbannung, trotz des Regimes der Hundert Tage und trotz der Schlacht bei Waterloo. Das alles war nur Abgesang.

Leipzig bedeutete für Napoleon nicht nur ein militärisches Desaster, sondern eine tödliche Bedrohung seines „napoleonischen“ oder „cäsaristischen“ Regimes, das nicht auf Legitimität und dynastischer Überlieferung beruhte, sondern auf kriegerischem Ruhm. Der Kaiser hatte seine Krone durch Siege errungen und mußte ihren Glanz durch immer neue Siege erhalten. Seine Gegner mochten Schlachten und sogar Kriege verlieren, ohne daß ihre Throne wankten, für Napoleon war das anders, und er wußte um diese Tatsache.

Das erklärt auch die Entschlossenheit, mit der er noch ein Jahr zuvor den Versuch unternahm, seinen einzigen unbesiegten Gegner – Großbritannien – durch einen Stoß gegen Rußland zu treffen. Der Angriff scheiterte, was weniger auf die Opferbereitschaft des russischen Volkes, die Taktik der „verbrannten Erde“ oder das Genie Kutusows zurückzuführen war, eher auf Fehler der Logistik und die Witterungsbedingungen.

Es folgten der verlustreiche Rückzug Frankreichs aus Rußland, der Zerfall der Grande Armée und der Frontwechsel Preußens. Der leitete die „Befreiungskriege“ ein, und bezeichnenderweise schrieb der preußische General Blücher schon im Januar 1813 an seinen Vertrauten Scharnhorst, daß es jetzt um mehr gehe als um das engere Vaterland: „Denn nicht nur Preußen allein, sondern das ganze Deutsche Vaterland muß wiederum heraufgebracht und die Nation hergestellt werden.“

Diese Auffassung teilte kaum ein Mächtiger der Zeit. Zwar erließ Friedrich Wilhelm III. von Preußen am 17. März 1813 die berühmte Proklamation „An mein Volk!“, in der ausdrücklich auch zum Kampf für die deutsche Freiheit aufgerufen wurde, und stellte sich endgültig auf die Seite Rußlands und seiner Verbündeten, aber Österreich blieb vorerst neutral und versuchte sogar einen Frieden zu vermitteln. Die Tochter Kaiser Franz I. war immerhin die Ehefrau Napoleons, der Staatskanzler Metternich geneigt, ein reduziertes Empire irgendwie in das europäische Konzert einzubinden, schon um größere Verwerfungen zu vermeiden.

Aber Napoleon begriff seine Lage nicht, glaubte nach wie vor, die Situation zu kontrollieren und die Bedingungen eines Friedens diktieren zu können. Nach einem letzten Gespräch, bevor die militärischen Aktionen eingeleitet wurden, vermerkte Metternich lapidar: „Mit dem Mann ist’s aus.“

Es folgte der Übertritt Österreichs auf die Seite der Alliierten, während Napoleons frisch rekrutierte, aber nur leidlich ausgebildete Truppen auf preußisches Gebiet vorrückten. Napoleon erfocht noch einige Siege, aber keine entscheidenden. Nach verlustreichen Gefechten konzentrierte er seine Kräfte seit dem 14. Oktober 1813 bei Leipzig, ließ die französischen und verbündeten Truppen vor den Toren und in den kleineren Ortschaften der Umgebung Aufstellung nehmen. Ihre Kampfstärke war der der Gegner fast ebenbürtig.

Am 16. Oktober standen sich auf jeder Seite etwa 200.000 Mann gegenüber. Die Schlacht begann mit einem Artilleriebeschuß von bis dahin unbekannter Stärke, der fast fünf Stunden andauerte. Dann griffen die französische Kavallerie und Infanterie in das Geschehen ein, denen es aber nicht gelang, das gegnerische Zentrum zu treffen. Trotzdem scheint Napoleon am Abend des ersten Schlachttags an einen Sieg geglaubt zu haben. Er befahl, die Glocken der Stadt läuten zu lassen, und in den Straßen riefen Soldaten und Kollaborateure „Es lebe der Kaiser“ – „Vive l’empereur!“

Der nächste Tag, ein Sonntag, bildete eine Pause im Kampfgeschehen, das Napoleon dazu nutzte, seinen Gegnern ein Verhandlungsangebot zu unterbreiten. Er hoffte, daß sein Schwiegervater, der Kaiser von Österreich, die Rolle des Vermittlers übernehmen könnte. Aber von seiten der Alliierten würdigte man ihn nicht einmal einer Antwort. Am 18. Oktober wurde die Schlacht mit unverminderter Härte fortgesetzt. Dabei war die französische Position nicht nur durch den Verlust von mehr als 30.000 Mann geschwächt, sondern auch durch den Zuzug, den die Koalition erhalten hatte, die jetzt über 295.000 Soldaten verfügte und deren Geschützzahl mit 1.360 Kanonen mehr als doppelt so groß war wie die Napoleons. Außerdem liefen während des Kampfes sächsische und württembergische Verbände geschlossen auf ihre Seite über.

Am Abend des 18. Oktober mußte Napoleon seine Niederlage begreifen. Vorbereitungen für einen Rückzug hatte er nicht getroffen, und so floh er am folgenden Tag mit dem Hauptstrom seiner Truppen in Richtung Westen. Die Alliierten, die eine Fortsetzung der Schlacht erwartet hatten, sahen erst nachdem der Morgennebel schwand, was geschah, beschossen und stürmten die Stadt. Leipzig wurde durch ihre Verbände besetzt, so daß der preußische König, der russische Zar sowie der Kronprinz von Schweden feierlich und unter dem Jubel der Leipziger einziehen konnten.

Die Stadt war zwar nicht – wie befürchtet – von den Franzosen niedergebrannt worden, aber verschmutzt und demoliert, mit Leichen und mehr als 30.000 Verwundeten gefüllt. Johann Christian Reil, einer der bedeutendsten Mediziner seiner Zeit, der sich zur Verfügung gestellt hatte, um provisorische Lazarette aufzubauen, vermerkte: „Die zügelloseste Phantasie ist nicht imstande, sich ein Bild des Jammers in so grellen Farben auszumalen, als ich es hier in der Wirklichkeit vor mir fand. Das Panorama würde selbst der kräftigste Mensch nicht anzuschauen vermögen …“. Infolge der katastrophalen hygienischen Zustände brach kurze Zeit später eine Typhusepidemie aus, der auch Reil zum Opfer fiel.

Trotz seiner Niederlage glaubte Napoleon im Herbst 1813 noch immer nicht am Ende seiner Möglichkeiten zu sein. Es gelang ihm, nach Paris zurückzukehren, und er war verblendet genug, ein Kompromißangebot der Alliierten abzulehnen.

In der Folge marschierten deren Truppen Anfang 1814 nach Frankreich ein, was Napoleons Sturz zur Folge hatte. Kurze Zeit später veröffentlichte Ernst Moritz Arndt, einer der bedeutendsten Publizisten der Befreiungskriege, eine kleine Schrift mit dem Titel „Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht“, die mit den Worten begann: „Das deutsche Volk hat außer den durch die göttliche Offenbarung geheiligten Zeiten keine festlicheren Tage als die glücklichen Tage, an welchen verflossenen Herbst die Leipziger Schlacht gefochten ward.“ Arndt begründete damit seinen Vorschlag, auf dem Schlachtfeld von Leipzig ein großes Denkmal zu bauen und jährlich hier und im ganzen Land ein Fest zur Erinnerung an den Kampf abzuhalten.

Der Gedanke entsprach einer Vorstellung von Nationalerziehung, die damals nicht nur Arndt vertrat, sondern von allen führenden „Patrioten“ geteilt wurde. Sie waren überzeugt, daß der Befreiungs- ein Freiheitskrieg gewesen sei, etwas anderes als die dynastischen Konflikte der Vergangenheit, und sie gingen davon aus, daß dieser Krieg den entscheidenden Anstoß zur Nationwerdung der Deutschen bilden müsse.

Es ist heute unbestritten, daß solche Auffassungen nur von einer Minderheit vertreten wurden, daß die emphatische Vorstellung, es habe das deutsche Volk im ganzen als deutsches Volk sich gegen Napoleon erhoben, nicht den Tatsachen entspricht. Umgekehrt gilt aber auch, daß in der Erfahrung der Fremdherrschaft und in den Überzeugungen einer Elite der Keim für das angelegt war, was man den „Völkerfrühling“ nennen wird, der, wenn auch erst zwei Generationen später, zur Schaffung eines deutschen Nationalstaats – wieder im Kampf gegen Frankreich und einen Napoleon – führen sollte.

 

Ein Mythos endet

Noch nie hatte Napoleon, der Herr über fast das gesamte europäische Festland, persönlich eine entscheidende Schlacht verloren. Nach dem Debakel in Rußland jedoch, wo seine Grande Armée vernichtend geschlagen wurde und er fast seine gesamte Kavallerie verloren hatte, war der Unbesiegbarkeitsmythos des Kaisers der Franzosen und „größten Schlachtenlenkers aller Zeiten“ erheblich angekratzt. In Leipzig nun suchte Napoleon die Entscheidung. Auf einem relativ kleinen Gebiet von 16 Kilometern in nord-südlicher und 13 Kilometern in ost-westlicher Richtung standen sich fast eine halbe Million Soldaten gegenüber. Oberbefehlshaber der Verbündeten gegen Napoleon war der österreichische Feldmarschall Fürst Schwarzenberg, ihm zur Seite standen der preußische Feldmarschall Blücher, der russische General Platow sowie der schwedische Kronprinz (und ehemalige französische Kriegsminister) Karl Johann Bernadotte.

www.leipzig1813.com

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Chronik

14. Oktober 1806

In der Schlacht bei Jena und Auerstedt verlieren preußische und sächsische Truppen gegen Napoleon.

30. Dezember 1812

Der preußisch-russische Waffenstillstand von Tauroggen schafft die Grundlage für die späteren Befreiungskriege.

20. März 1813

Der preußische König Wilhelm III. bittet im Aufruf „An mein Volk“ „Preußen und Deutsche“ um Unterstützung im Kampf gegen Napoleon und erklärt Frankreich noch am selben Tag den Krieg.

14. Oktober 1813

Das Gefecht von Liebertwolkwitz zwischen Alliierten und Franzosen entwickelt sich zur größten Reiterschlacht der napoleonischen Kriege mit 14.000 berittenen Soldaten. Nach erbittertem Kampf behaupten schließlich die Franzosen den Ort.

16. Oktober 1813

Die Lage der Verbündeten scheint aussichtslos, Napoleon läutet die Siegesglocken. Doch die Verstärkung der Franzosen bleibt aus. Sie wird bei Möckern von der Schlesischen Armee gebunden.

17. Oktober 1813

Anrückende Verstärkung stabilisiert die Lage der Verbündeten. Napoleon ersucht um einen Waffenstillstand. 160.000 napoleonischen stehen 300.000 Soldaten der Verbündeten entgegen.

18. Oktober 1813

Die Mehrzahl der sächsischen Truppen läuft auf die Seite der Verbündeten über. Mit jeder Stunde wird Napoleons Lage aussichtsloser. Nach Einbruch der Dunkelheit befiehlt er den Rückzug über die Saale.

19. Oktober 1813

Hunderte Franzosen ertrinken bei der Flucht aus Leipzig. Die verbündeten Monarchen halten gegen Mittag auf dem Leipziger Marktplatz ihre Siegesparade ab. Der sächsische König, der sich während der Schlacht in Leipzig aufhielt, gerät in Gefangenschaft.

Foto: Völkerschlacht bei Leipzig, Gemälde von Wladimir Moschkow, 1815: „Die zügelloseste Phantasie ist nicht imstande, sich ein Bild des Jammers in so grellen Farben auszumalen“

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