© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

Hirngerechter Unterricht
Neurowissenschaftliche Ratschläge zur Meisterung der deutschen Bildungsmisere
Olaf Gebauer

In Deutschland kommen 17,5 Prozent der Erwachsenen beim Rechnen und Lesen nicht über das Niveau von Grundschülern hinaus. In der 24 hochentwickelte Länder erfassenden Piaac-Studie der Wirtschaftsorganisation OECD dümpelt das einstige Land der Dichter und Denker damit nur im Mittelfeld. Die USA liegen bei der Lesekompetenz mit 270 Punkten gleichauf. Bei der Mathekompetenz sind es 272 Punkte – drei mehr als der OECD-Schnitt.

Werden die Migranten hierzulande (236 bzw. 233 Punkte) jedoch herausgerechnet, sieht es etwas besser aus: Mit 275 Punkten beim Lesen lägen die Deutschen nur sieben Ränge hinter den in beiden Kategorien führenden Japanern, die in ihrer strengen Schulzeit sogar vier Schriftsysteme mit insgesamt weit über 2.000 Zeichen erlernen müssen. In Mathematik kommen die deutschen Erwachsenen laut Piaac auf 278 Punkte – knapp hinter Schweden auf Rang sechs.

Die Verbessungsvorschläge fielen erwartbar aus – Gesamtschulen müßten her: „Das Hauptproblem in Deutschland ist, daß wir früh aussortieren“, meinte etwa Heike Solga vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in der Welt. Auch lebenslanges Lernen sei „in unserer Kultur quasi ein Fremdwort“. In Schweden gebe es seit 1974 ein Anrecht für Arbeitnehmer, ein halbes Jahr auszusteigen, um sich weiterzubilden.

Aus der Perspektive des Bremer Hirnforschers Gerhard Roth kratzen solche Erklärungen nur an der Oberfläche. Roth glaubt nämlich, das bildungspolitische Ei des Kolumbus in Erkenntnissen der Hirnforschung gefunden haben. Die ganze Malaise schulischer Bildung, die mittelfristig Deutschlands Position als Industriestandort gefährde, ergebe sich aus pädagogischer Ignoranz gegenüber den psychologischen und neurobiologischen Grundlagen des Lernens (Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 3/13).

Neurobiologische Kritik an der „anti-naturwissenschaftlichen Haltung“ unter Pädagogen und Didaktikern sei seit den ersten Warnungen des Ulmer Psychologen Manfred Spitzer (2002) nie mehr verstummt, habe aber so wenig geändert wie die seit 1995 entwickelten Konzepte für eine „Neurodidaktik“. Darum lasse die Umsetzung von Einsichten der Hirnforschung in Schulpraxis weiterhin auf sich warten. Eine Rezeptionsverweigerung, die, wie Roth einräumt, auch mit dem verwirrenden Angebot auf dem „profitträchtigen Markt“ für „hirngerechtes Lernen“ einhergehe. Viele der angepriesenen Methoden für „Superlearning“, „Brain Gym“, „Ganzheitliches Lernen“ oder „Gehirnjogging“, die versprechen, die Auslastung des eigenen Gehirns zu steigern und mit Albert Einstein gleichzuziehen, der angeblich 100 Prozent seiner „grauen Zellen“ nutzen konnte, seien „wissenschaftlich äußerst fragwürdig“. Im schlechtesten Fall erreichten Veröffentlichungen zu diesem Thema nur das Niveau von Ratgeberliteratur und seien entsprechend wertlos.

Für wissenschaftlich belastbar belegt hält Roth hingegen zwei neurobiologische Fundamente des Lernerfolgs. Zum einen habe sich die zentrale Rolle des Lehrers für die Wissensvermittlung, die die bahnbrechende Arbeit „Visible Learning“ (2009) des Australiers John Hattie herausstellt, hirnphysiologisch bestätigt. Lernen sei ein kommunikativer Akt, bei dem die Vertrauenswürdigkeit des Lehrers als ein für die Leistungsfähigkeit des Schülers besonders relevanter Faktor gelte.

Kernspintomographische Messungen im Gehirn wiesen nach, daß der Grad der Aktivierung der Amygdala (sie ist für grobe Gesichtserkennung unterhalb der Hirnrinde zuständig) durch Gesichter, zu fast 90 Prozent mit den subjektiven Einschätzungen von Personen über die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit ihres Gegenübers übereinstimmt. Je unglaubwürdiger Gesichter eingeschätzt würden, desto aktiver sei die Amygdala, so als würde sie vor diesen „warnen“.

Der so geprägte erste, überwiegend durch die stammesgeschichtlich älteren, limbischen Hirnpartien vermittelte intuitiv-unbewußte Eindruck von einem Menschen bleibe ziemlich lange stabil. Da wir Lerninhalte von als vertrauenswürdig eingestuften Menschen eher akzeptieren, dürften Didaktiker den „selbstorganisierten“ Unterricht nicht überschätzen: die „sympathische“ Lehrerpersönlichkeit bleibe für den Lernerfolg entscheidend. Wer in Mimik, Gestik, Körperhaltung und Stimmführung als Lehrer Desinteresse am Lernstoff oder fehlende eigene Motivation signalisiere, wecke bereits beim ersten Auftritt vor der Klasse Antipathien und fordere dauerhaft zum Weghören auf.

Zum anderen verfolgen alle Unterrichtsformen das Ziel, Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, die lange im Gedächtnis verankert bleiben. Für die Gedächtnisbildung in der Schule sei das deklarative Gedächtnis wichtig, das Inhalte aufnehme, die sprachlich detailliert wiedergegeben werden können. Dieser Prozeß der Gedächtnisbildung beginnt im Kurz- oder Arbeitsgedächtnis. Inhalte gelangen von hier ins Zwischen- und schließlich ins Langzeitgedächtnis. Dort eingespeichertes Wissen stehe in einer Spanne zwischen 30 Minuten und Jahrzehnten zur Verfügung.

Die gefährlichste Klippe für die Wissensaneignung stelle das Arbeitsgedächtnis dar. Seine Begrenztheit auf eine Spanne von 2 bis 30 Sekunden bedingt, daß kaum jemand für mehr als ein paar Minuten konzentriert zuhören könne. Jeder Frontalunterricht müsse deswegen „arbeitsgedächtnisfreundlich“ Wissensvermittlung in kleinen Portionen verabreichen. Daraus folge eine „radikale Reduktion der Unterrichtsinhalte auf einen absolut notwendigen Kernbestand an Wissen“. Es sei nutzlos, ein großes Pensum bewältigen zu wollen und unter Hochdruck viel Stoff durch den „Flaschenhals des Arbeitsgedächtnisses“ pressen zu wollen, da dies nur zu „Staubildungen“ und Effektivitätsminderungen führe. Diese Berücksichtigung neurophysiologischer Determinanten helfe auch den „Minderleistenden“, deren Kerndefizit in verlangsamter Informationsverarbeitung bestünde, ihrer weitgehend genetisch fixierten geringeren Intelligenz.

Ausgangspunkt für „hirngerechten Unterricht“ sollte mithin ein 30minütiger Frontalunterricht sein, der streng rationiertes Wissen mit Rücksicht auf die limitierten Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses anbietet. Anschließend erfolgt vertiefende Gruppenarbeit, da Interaktion von „hoher gedächtnisstützender Wirkung“ ist und die durch Einzelarbeit noch verstärkt werden könne. Ein derartiger „Mix von Unterrichtsformen“ befördere durch Vielseitigkeit die Konsolidierung neuen Wissens, kollidiere aber mit dem üblichen 45-Minuten-Takt des deutschen Schulalltags.

Zur Ganztagsschule, die allein die Abfolge von Frontalunterricht, Gruppen- und Einzelarbeit erlaube, gebe es darum keine Alternative. Sie ist für Roth die ideale, weil „hirngerechte“ Schulform. Das dafür erforderliche neue Lehrpersonal stünde zur Verfügung, wenn heute praktizierte, aber wissenschaftlich widerlegte Unterrichtskonzepte neurowissenschaftlich reformiert würden und eine Einführung in das Grundwissen der Hirnforschung demnächst als Pflichtfach in die Curricula der Lehrerstudiengänge komme. Schließlich würde in den Naturwissenschaften auch niemand behaupten, Biologie sei ohne Chemie, Physik ohne Mathematik verständlich zu machen.

Piaac-Kompetenzstudie Erwachsene: www.oecd-berlin.de

Zeitschrift für Pädagogische Psychologie: www.hogrefe.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen