© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

Knapp daneben
Risikofreudige Minderheit
Karl Heinzen

Frankreichs öffentliche Verkehrsbetriebe bedrückt die hohe Zahl von Schwarzfahrern. Fünf Prozent der Passagiere, so ihre Schätzung, nutzen Busse und Bahnen ohne einen gültigen Fahrschein. Der Schaden ist für einen fiskalisch nicht gerade auf Rosen gebetteten Staat beträchtlich. 300 Millionen Euro an potentiellen Einnahmen muß allein die französische Eisenbahngesellschaft SNCF Jahr für Jahr abschreiben.

Eine Lösung des Problems wird dadurch erschwert, daß es sich offenbar niemand so recht zu erklären vermag. In ihrer Verzweiflung greifen manche in die Mottenkiste vermeintlicher kultureller Traditionen und einer durch sie geprägten Mentalität. So macht der Philosoph Michel Onfray den Katholizismus für das Massenphänomen des Schwarzfahrens verantwortlich, fördere dieser doch die Neigung, Regeln heimlich zu übertreten.

In einer ethnisch von Grund auf erneuerten Stadt wie Paris, in der nur noch Baudenkmäler von einer christlichen Vergangenheit zeugen, dürfte diese Sorge allerdings unbegründet sein. Wer schwarzfährt, lebt in der Regel keine dumpfen anarchischen Aversionen gegen Recht und Ordnung aus. Er folgt vielmehr einem rationalen Kalkül, das den meisten Vertragsbrüchen und Eigentumsdelikten zugrunde liegt: Ist die angedrohte Buße, gewichtet mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit, daß man erwischt wird, geringer als die Ersparnis, dann lohnt es sich, vom Kauf einer Fahrkarte abzusehen.

Es spricht manches dafür, daß die ökonomische Vernunft auch hier nur von einer Minderheit beherzigt wird. Während Schwarzfahrer kühl ihren eigenen Nutzen maximieren, nimmt die Mehrheit der Bevölkerung lieber einen finanziellen Schaden in Kauf, als gegen ihre irrationale Furcht vor Bestrafung anzukämpfen.

Wenn heute bereits in 20 französischen Städten der öffentliche Nahverkehr kostenlos genutzt werden kann, ist dies daher keine soziale Wohltat, sondern ein fatales Signal. Belohnt werden nicht Menschen mit Risikobereitschaft, die der Humus für Innovation sind, sondern Angsthasen, die sich ansonsten eine Fahrkarte gekauft hätten.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen