© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

Der Flaneur
Stimme der Jugend
Sebastian Hennig

Eine Schülergruppe umgibt mich auf der Bahnfahrt in die Sächsische Schweiz. In einem gewissen Stadium pflegen die Heranwachsenden sich nur coram publico zu äußern: „Alter, meine Mutter hat mir befohlen, so eine schwule Mütze mitzunehmen.“ Auf Großreklame längs der Strecke wirbt ein sächsischer Komiker mit Trottel-Attitüde für eine Flaschenbrause. Der Feststellung „Der labert nur Blödsinn“ folgt eine tiefsinnige Abschätzung des Lebenswerks: „Ob der glücklich sein wird, wenn er sterben muß.“ Der Lehrer mit Brille, Dreitagebart und Weste gibt vorsichtig zu bedenken: „Wär’ schön, wenn ihr jetzt aussteigen würdet.“

Bald nimmt der Wagen eine andere Schulklasse auf. Die Kinder verteilen sich auf den Sitzen. Ein nervöser Blonder verkündet einem fülligen dunkelschopfigen Freund, er wolle sich den Namen seiner Mutter in die Haut stechen lassen: „’ne übelst geile Schreibschrift. Das hab’ ich schon ein Jahr geplant. Meine Mutti hat nichts dagegen.“ Der Freund findet das verfrüht und will damit lieber noch etwas warten: „Deine Haut wächst noch. Deshalb lasse ich das erst mit 18 machen.“

Die Lehrerin, die gleich mir verschwiegen zuhört, lächelt sanft. Die beiden bitten sie darum, im Landheim von den anderen Jungen getrennt untergebracht zu werden, welche sie mit der Bezeichnung „Bauern“ abwerten. Als Frau Thieme bekennt, ihre Eltern seien Bauern, betonen sie sogleich die Achtbarkeit dieses Berufsstandes. Die Jungen verbergen nicht, daß sie ihre Lehrerin mögen.

Nach dem Umsteigen bekomme ich die wahren Rabauken zu Gesicht. Die tragen asoziale Coolneß zur Schau. Ein athletischer Häuptling mit bräunlicher Pigmentierung und extravaganter Haartracht dirigiert die Meute mit seiner Mimik und maßregelt mit perfide prostituierenden Zärtlichkeiten. Dieses Quasi-Knast­idyll läßt überdeutlich werden, warum die zwei Jungen auch in der Freizeit der Klassenfahrt lieber unter der Bevormundung durch Frau Thieme als unter der Fuchtel der Gleichaltrigen stehen. Die „Peergroup“ ist die Hetzmeute der Hemmungslosen.

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