© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

„Frau, komm!"
Ein Danziger Kunststudent hat mit der Darstellung eines vergewaltigenden Rotarmisten einen Eklat provoziert. Warum das Werk ein Tabubruch ist, erklärt der russische Publizist Dmitrij Chmelnizki
Moritz Schwarz

Herr Dr. Chmelnizki, hat Sie die Empörung der russischen Regierung über die Skulptur „Frau, komm!“ des polnischen Künstlers Jerzy Szumczyk überrascht?

Chmelnizki: Überhaupt nicht. Es wäre ein Wunder, hätte sie anders reagiert.

Warum?

Chmelnizki: Man muß verstehen, was in Rußland vor sich geht. Präsident Putin versucht, eine „patriotische“ Geschichtsschreibung durchzusetzen. Was bedeutet, auch wieder an die Tradition stalinistischer Geschichtsfälschung anzuknüpfen.

Aber die Massenvergewaltigungen der Roten Armee sind doch eine historische Tatsache.

Chmelnizki: Sicher, aber dieser Teil der Geschichte wird von der russischen Regierung nicht akzeptiert.

Sondern?

Chmelnizki: Nichts sondern, er kommt einfach nicht vor.

Aber werden dazu in Rußland von Historikern, Medien und Teilen der Öffentlichkeit keine Fragen gestellt?

Chmelnizki: Doch, es gibt etliche Historiker und Journalisten, die darüber schreiben, doch dringen sie nicht durch. Weder führt es zu einer gesellschaftlichen Debatte, noch findet es Eingang in die offiziellen Darstellungen.

Müßte die deutsche Regierung nicht darauf drängen, daß Rußland die Tatsachen anerkennt und dazu Stellung nimmt?

Chmelnizki: Auf jeden Fall. Das gilt aber nicht nur für Deutschland und die Massenvergewaltigungen, sondern für den ganzen Westen und sämtliche Verbrechen des sowjetischen Regimes.

Sie sind selbst gebürtiger Russe, müßten Sie Ihr Land jetzt nicht in Schutz nehmen?

Chmelnizki: Das ist doch absurd, ebensogut könnten Sie auf die Idee kommen, mich zu fragen, ob ich mich als Jude nicht mehr für die Verbrechen der Nazis und den Holocaust interessieren sollte als für die der Roten Armee und des Stalinismus. Für mich hat das mit Abstammung nichts zu tun, sondern ist erstens eine wissenschaftliche und zweitens eine Frage der intellektuellen Redlichkeit. Mit Erstaunen habe ich festgestellt, daß im Westen etliche Aspekte des Zweiten Weltkrieges nicht viel anders präsentiert werden als in der stalinistischen Propaganda. Natürlich werden die Massenvergewaltigungen der Roten Armee im Westen nicht geleugnet, aber sie werden oft verharmlosend dargestellt und bleiben im Grunde unbeachtet. Das ist es wohl, worauf der junge polnische Kunststudent hinweisen wollte.

Warum klagt ein polnischer Künstler ausgerechnet die Schändung der deutschen Frauen an?

Chmelnizki: Das verwundert mich nicht. Der besonders grausame Umgang der Roten Armee mit der Zivilbevölkerung ist eben nicht nur für mich kein Geheimnis. Und was die Massenvergewaltigungen angeht, davon waren – mit etwa zwei Millionen als mit Abstand größte Opfergruppe – die deutschen Frauen eben am meisten betroffen.

Es traf also nicht nur deutsche Frauen?

Chmelnizki: Ganz und gar nicht. Allerdings schwanken die Zahlen zum Teil beträchtlich.

Die britische Zeitung „Daily Mail“ spricht von etwa 70.000 bis 100.000 betroffenen Frauen in Österreich, 50.000 bis 200.000 in Ungarn sowie weiteren Zigtausenden in Rumänien, Bulgarien, Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien.

Chmelnizki: Die Zahlenschwankungen liegen auch darin begründet, daß das Thema nie endgültig erforscht worden ist. Was auch daran liegt, daß man sich nicht sonderlich dafür interessiert hat.

Warum hat die Rote Armee selbst in Ländern vergewaltigt, mit denen sie verbündet war beziehungsweise die sie befreit hat?

Chmelnizki: Weil sie diese Länder eben nicht befreit, sondern erobert hat. Und hinter den Massenvergewaltigungen stand eben weder ein ideologisches Prinzip noch ein Rachebedürfnis.

Als Akt der Rache wird dies aber heute in Deutschland interpretiert.

Chmelnizki: Und das ist falsch.

Warum?

Chmelnizki: Ich halte diese Argumentationsweise für zynisch und unmoralisch. Die Rote Armee hat im Laufe des Krieges etliche Länder angegriffen, besetzt und verwüstet. Sollten hypothetische Verbrechen der Polen, Finnen, Litauer etc. gegen die sowjetische Zivilbevölkerung die Rote Armee sozusagen im voraus dazu berechtigt haben?

Allerdings hat der deutsche Angriff die Sowjetunion horrende 27 Millionen Menschenleben gekostet!

Chmelnizki: Diese 27 Millionen Toten können sie nicht einfach der deutschen Seite zurechnen. Natürlich starben zahlreiche Menschen durch den von der Wehrmacht ins Land gebrachten Krieg, sie starben in deutscher Kriegsgefangenschaft und durch den Besatzungsterror der SS, den die Wehrmacht zum Teil auch unterstützt hat. Aber ebenso starben zahlreiche Menschen durch den Terror der Roten Armee, des sowjetischen Geheimdiensts NKWD sowie durch die menschenverachtende Kriegsführung Stalins und seiner Generäle. Tatsächlich geht wohl eine Mehrheit der 27 Millionen Opfer auf das sowjetische Konto.

Wie kommen Sie denn darauf?

Chmelnizki: Bereits in der Zeit vor dem Krieg kostete die kommunistische Herrschaft zwischen neun und 15 Millionen Sowjetbürger das Leben. Und das war im Frieden! Während des Krieges aber wurde das sowjetische Regime nicht milder, sondern grausamer, viel grausamer.

Was aber kein Beweis für Ihre These ist.

Chmelnizki: Ich beziehe mich auf jüngste Forschungen, die in Rußland erschienen sind und die in jedem Fall die Rache-These als das entlarven, was sie ist, nämlich sowjetische Propaganda. Natürlich muß man andererseits kalkulieren, daß die Soldaten der Roten Armee dieser Propaganda ausgesetzt waren. Objektiv betrachtet aber litten die Menschen in der Sowjetunion unter der, zwar zum Teil grausamen, deutschen Besatzung nicht mehr als unter sowjetischer.

Die Historikerin Regina Mühlhäuser schildert in Ihrer Arbeit „Brutality and Desire, War and Sexuality in Europe’s 20th Century“ allerdings auch Vergewaltigungen russischer Frauen durch deutsche Soldaten.

Chmelnizki: Sicher gab es auch das. Ob allerdings dahinter mehr steckt als „normale“ Kriminalität während eines Krieges, daran habe ich Zweifel.

Warum?

Chmelnizki: Hätte es Massenvergewaltigungen durch deutsche Soldaten in ähnlichem Ausmaß wie durch die Rote Armee gegeben, dann wüßten wir das. Die Propaganda hätte das weder während noch nach dem Krieg verschwiegen, im Gegenteil. Auch wäre das in Nürnberg Thema gewesen, wo die Deutschen für alles mögliche angeklagt wurden, aber nicht für Massenvergewaltigung. Und auch heute wäre das in Rußland ein Thema. Nein, die Massenverbrechen der Nazis lagen in anderen Bereichen.

Vergewaltigungen gab es auch durch westalliierte Soldaten, doch nicht in dem Ausmaß wie von seiten der Roten Armee.

Chmelnizki: Die westlichen Armeen, auch die deutsche Wehrmacht, waren anders organisiert als die Rote Armee, Soldaten und Offiziere anders erzogen. Dort waren Verzicht auf Plünderung und Vergewaltigung auch eine Frage der militärischen Disziplin. Und der Begriff Kriegsverbrechen hatte dort eine andere Bedeutung als in der Roten Armee.

Inwiefern?

Chmelnizki: In der Roten Armee galten nicht Raub und Vergewaltigung als Verbrechen, sondern zum Beispiel in Kriegsgefangenschaft zu gehen. Ursprünglich wollte Stalin alle Rotarmisten, die in Gefangenschaft gerieten, nach ihrer Befreiung erschießen lassen. Später ließ er davon ab, weil er sie für den Wiederaufbau brauchte. Die Soldaten der Roten Armee wußten, daß sie wegen eines Witzes über Stalin erschossen werden konnten, daß Vergewaltigung und Ermordung von Zivilisten aber straffrei blieben.

Das heißt, die Massenvergewaltigungen waren kein Zufallsprodukt im moralischen Vakuum des Krieges, sondern Ausdruck des sowjetischen Systems?

Chmelnizki: Natürlich, die Soldaten der Roten Armee waren im großen und ganzen total demoralisierte, arme, kleine Leute, die oft wenig Aussicht hatten, diesen Krieg zu überleben. Sie waren sozusagen unterentwickelt und hatten meist ein unglaublich schweres Leben hinter sich. Denken Sie nur an all die Terrorwellen der dreißiger Jahre, die Kollektivierung, die Deportationen, Verbannungen, Hunger und Not in der Sowjetunion. Sie wurden von ihren eigenen Generälen wie Vieh behandelt. Und nun plötzlich waren sie nicht mehr Sklaven, sondern Herren – gegenüber der Zivilbevölkerung. Seitens der sowjetischen Regierung war das eine Art Kompensation für alles, was die Soldaten erdulden mußten. Deshalb traf es auch Frauen „befreundeter“ und „befreiter“ Nationen, traf es russische Frauen, traf es sogar Frauen, die aus den Konzentrationslagern kamen. 1944 besetzte die Rote Armee Jugoslawien, das dank der Tito-Partisanen sozusagen ein befreundeter kommunistischer Staat war. Dennoch kam es zu Mord, Plünderung und Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten. Proteste der Tito-Regierung ignorierte Stalin. Der bekannte Milovan Djilas schildert in seinen Erinnerungen, daß Stalin ihm vorwarf, die Rote Armee mit dem jugoslawischen Protest beleidigt zu haben, denn es gebe nichts Schlimmeres als einem Soldaten vorzuenthalten, daß er sich nimmt, was er braucht oder sich mit einer Frau amüsiert. Das gleiche galt für Plünderung, wofür es in der Roten Armee sogar ein Reglement gab. Das zeigt, Plünderung und Vergewaltigung waren als eine Art Bonus-System Teil der sowjetischen Kriegsführung und hatten mit den Verbrechen der Nazis rein gar nichts zu tun.

Wieso ist diese Deutung dann in Deutschland so populär? Und zwar vor allem in Medien und Teilen der Wissenschaft, also unter den Gebildeten.

Chmelnizki: Weil die Rolle der Roten Armee bis heute nicht richtig verstanden beziehungsweise dargestellt worden ist.

Inwiefern?

Chmelnizki: Heute wird die Rote Armee im Westen überwiegend in der Rolle des Befreiers gesehen. Tatsächlich aber war sie genauso wie die deutsche Wehrmacht ein Eroberer. Und das nicht erst nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945, sondern von Anfang an. Es beginnt schon damit, daß Hitler den Krieg gemeinsam mit Stalin organisierte – Stichwort Hitler-Stalin-Pakt. Es setzt sich damit fort, daß Stalin ebenso wie Hitler unbeteiligte Länder wie Polen, Finnland, Lettland, Estland und Litauen überfiel, eroberte und mörderisch terrorisierte. Und es endet damit, daß er das gleiche schließlich mit ganz Osteuropa tat, das er nicht deshalb von den Nazis säuberte, um es zu befreien, sondern um es zu erobern, was erneut mit schwersten Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in all diesen Ländern einherging. Wenn nun der Danziger Student das Verbrechen der Massenvergewaltigungen der Roten Armee thematisiert, dann rührt er also tatsächlich an viel mehr als nur an ein isoliertes Verbrechen gegen die deutschen Frauen. Dann verweist er nämlich auf die Frage, warum die Rote Armee sich so verhielt: weil sie wie die Nazis eroberte und nicht befreite.

Die Skulptur hat er neben dem sowjetischen Ehrenmal in Danzig aufgestellt. Eine gezielte Provokation?

Chmelnizki: Das halte ich genau für den richtigen Ort. Denn diese Ehrenmale, von denen ja zwei monumentale Exemplare auch in Berlin stehen, sind lügnerisch. Ich bin nicht dafür, sie abzureißen, aber sie sollten als das verstanden werden, was sie sind: nicht Ehrenmale der Roten Armee, sondern Mahnmale ihrer Besatzungsherrschaft.Und das ist keineswegs gegen die russischen Soldaten an sich gerichtet, denn die Rote Armee konnte schon deshalb niemanden befreien, weil sie selbst aus Leuten bestand, denen alle bürgerlichen Rechte genommen worden waren, die von keinem Gesetz geschützt wurden, die selbst völlig unfrei waren.

In Deutschland gibt es bis heute kein Denkmal für die Verbrechen der Roten Armee.

Chmelnizki: Das Thema ist leider auch in Deutschland wenn nicht tabuisiert, dann mindestens unerwünscht und marginal. Bestenfalls ist den Deutschen der Umstand bekannt, daß es diese Vergewaltigungen gegeben hat. Die meisten aber wissen schon kaum mehr etwas über deren Charakter.

Inwiefern?

Chmelnizki: Es handelte sich oft nicht einfach nur um Vergewaltigungen, sondern um Exzesse der schlimmsten Art. Betroffen waren sogar Kinder und Greisinnen, Frauen wurden zu Tode vergewaltigt, andere dabei gefoltert und verstümmelt oder danach ermordet. Vielfach mußten die eigenen Kinder, Väter, Ehemänner dabei zusehen, und wer versuchte, gegen das Unerträgliche einzuschreiten, wurde oft erschossen. Es gibt zum Thema zwar gute Bücher in Deutschland, aber kaum ein gesellschaftliches Bewußtsein. Viele Deutsche denken heute beim Wort „Rotarmist“ an einen netten Soldaten, der Balalaika spielt und tanzt. Das ist ein falsches Bild als Folge der Mystifizierung des Nationalsozialismus als des einzig Bösen, woraus folgt, daß die Sowjetunion zu den „Guten“ gehörte. All das käme ins Wanken, wenn die Aktion des polnischen Studenten die Gesellschaft zum Nachdenken brächte.

 

Dr. Dmitrij Chmelnizki, der Historiker und Rußlandexperte ist Herausgeber einer erfolgreichen russischen Buchreihe zum Zweiten Weltkrieg, die unabhängige und etablierte Historiker aus Rußland, Großbritannien, Deutschland, Israel und den USA versammelt. Geboren 1953 in Moskau, studierte er ursprünglich Architektur in Leningrad und Berlin. 1987 gelang der jüdischen Familie die Ausreise nach Deutschland, wo der Publizist seitdem lebt. Im Verlag Pour le Mérite gab er 2011 auf deutsch den Band „Die Rote Walze. Wie Stalin den Westen überrollen wollte“ und 2009 „Überfall auf Europa. Neun russische Historiker belasten Stalin“ heraus. Im gleichen Jahr erschien aus der Feder des ehemaligen Hamburger Wissenschaftssenators Ingo von Münch: „‘Frau, komm!‘ Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45“ (Ares-Verlag).

www.chmelnizki.de

siehe Bericht Seite 9

Foto: Skandalskulptur: „In Rußland ist das Thema tabu, in Deutschland marginalisiert. Anders als behauptet, hatten die Massenvergewaltigungen mit Rache für die Nazi-Verbrechen nichts zu tun.“

 

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