© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Die Tatsache, daß auch Pro Familia in den Pädophilieskandal verwickelt ist, muß vor allem als symptomatisch betrachtet werden: Denn diese Organisation mit dem irreführenden Namen, zu deren Kernanliegen Frühsexualisierung und Abtreibungspropaganda gehören, und für die sich nicht nur die Türen der Schulen, sondern auch die kirchlicher Gemeindezentren öffneten, ist selbst Teil jener „Sexpol“ gewesen, die nichts mit Aufklärung, aber eine Menge mit Enthemmung und Schamverlust und der Verwischung aller Grenzen zwischen Normalität und Anomalie zu tun hatte.

Wichtigste metapolitische Disziplin: Krötenschlucken.

Bildungsbericht in loser Folge XXXXV: Die Debatte darüber, warum Schüler in den neuen Bundesländern im Durchschnitt besser rechnen als Schüler in den alten, ist schnell wieder erloschen. Wohl auch deshalb, weil man von jener „Errungenschaft“ der DDR – nämlich der Aufrechterhaltung gewisser traditioneller Erziehungs- und Disziplingrundsätze – in den tonangebenden Kreisen ganz und gar nichts wissen will.

Eine offizielle Veranstaltung zum 25. Jahrestag der Meißnerfeier im Oktober 1938 gab es nicht, aus verständlichen Gründen, muß man sagen; die zum 75. Jahrestag war eine merkwürdig verdruckste Angelegenheit, bei der man sich im Zweifel auf die Kontinuität zu ’68 und Woodstock berief. Ganz anders der „Meißnertag 1963“, mit offizieller Feierstunde in der Aula der Göttinger Universität, Grußworten der Hochrangigen und sechstausend Teilnehmern, nicht zuletzt aus dem Kreis der Ehemaligen und der neuentstandenen Bünde. Die Festrede hielt Wilhelm Stählin, Altbischof, Theologe, Mitgründer der Michaelsbruderschaft und des Berneuchener Kreises, jungkonservativer Autor der Zwischenkriegszeit, Führer des Bundes deutscher Jugendvereine, der als eine der ersten Gruppen der „Jugendpflege“ Formen der „Jugendbewegung“ übernahm, vor allem aber: Wandervogel. Was die Ansprache Stählins auszeichnete, war nicht nur der Mangel an Nostalgie, sondern auch, daß er die Auffassung vertrat, es gehe nicht um Wiederbelebung, sondern im Geist der Meißnerformel darum, das zu bewirken, was allein helfen könne: „ansteckende Gesundheit“.

Wenn das olfaktorische Gedächtnis – also das Gedächtnis, in dem die Geruchswahrnehmungen gespeichert werden – das einzige ist, das nicht vergißt, dann bleibt die Feststellung wichtig, daß die Intensität eines Geruchs erheblichen Schwankungen ausgesetzt ist. Es muß einiges zusammenkommen, um den ursprünglichen Eindruck wieder hervorzurufen, der an nachhaltige Ereignisse gebunden sein kann, aber auch an Allerweltsgeschehnisse. Ein Gedanke, der mir immer durch den Kopf geht, wenn ich Zweitakterabgase im Herbst rieche und spontan an die Besuche im Ost-Berlin der 1980er Jahre denke.

Nachdem ein Junge bei den Stämmen am Sepik auf Papua-Neuguinea zum Krokodilmann geworden ist und man ihm in schmerzhafter Prozedur die schuppenartigen Narben auf den Körper gebracht hat, wird er darüber belehrt, wie er sich als Erwachsener verhalten muß. Zu den Regeln, denen ein Mann unbedingt folgen soll, gehören: Nicht zu lange bei der Frau im Haus bleiben, nicht zuviel mit Frauen reden, nicht mit fremden Frauen schlafen, das Kind nicht aufnehmen, nicht tragen, nicht windeln, nicht waschen, weil das die Männlichkeit aus dem Körper zieht.

Der neue Streit um den Nationalsozialisten Emil Nolde hat etwas Nervtötendes: weil die Fakten bekannt sind und schon eine Oberflächenkenntnis der Kulturgeschichte des NS-Regimes genügt, um zu wissen, daß die Verwerfung der künstlerischen Moderne keine einhellige war, weil jeder Interessierte wissen kann, daß es nicht ganz einflußlose Gruppen gab, die die Integration bestimmter zeitgenössischer Richtungen – etwa des Expressionismus – wünschten, weil immerhin dem Eingeweihten klar ist, daß es neben den eher konventionellen Urteilen Hitlers auch noch die Hardliner gab, die eine Art „nationalsozialistischen Realismus“ propagierten, dem sie mit ähnlichen Methoden zur Durchsetzung verhelfen wollten wie die Verfechter des „sozialistischen Realismus“ auf der Gegenseite.

„Wenn junge Amerikaner wüßten, was gut für sie ist, würden sie sich allesamt der Tea-Party-Bewegung anschließen.“ (Niall Ferguson, Historiker)

Noch einmal zum Thema Haar und Macht: Aus der besonderen Sorgfalt, mit der die Rasiermesser der nordischen Bronzezeit angefertigt und dekoriert wurden, schließt der dänische Archäologe Flemming Kaul, daß zu den Merkmalen der Frühzeitelite das glatt rasierte Kinn gehörte. Eine Mode, die offenbar in ganz Europa verbreitet war und ihren Ursprung in Griechenland hatte; „mykenischer Lifestyle“, wie Kaul sagt.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 8. November in der JF-Ausgabe 46/13.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen