© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

Linke Gesellschaftsziele
Fatales Vermächtnis
Peter Kuntze

An den Themen „Bildung“ und „soziale Gerechtigkeit“ entzünden sich immer wieder erbitterte Debatten, die sogar auf privater Ebene oftmals zu langanhaltenden Zerwürfnissen führen. Ein Ende dieser Auseinandersetzungen ist nicht zu erwarten, schließlich geht es um Fragen, die schon vor zweieinhalbtausend Jahren die Antike beschäftigt hatten. Aristoteles (auf dem Gemälde im Zentrum rechts) kleidete die Problematik, die die Gesellschaft bis heute in zwei Lager spaltet, in folgende Worte: „Wenn die Menschen nicht gleich sind, so werden sie auch nicht Gleiches haben dürfen; hier liegt ja die Quelle von allem Kampf und Streit, der entbrennt, wenn entweder Gleiche Nichtgleiches oder Nichtgleiche Gleiches haben und genießen.“

Es geht mithin darum, welche Folgerungen aus der naturgegebenen Tatsache der sowohl körperlichen als auch geistigen Ungleichheit des Menschen zu ziehen sind – soll jedem das Seine zuteil werden oder allen das gleiche? Ergo: Ist es gerecht, das erwirtschaftete Sozialprodukt strikt nach der je individuellen Leistung zu verteilen oder statt dessen jedem ein bedingungsloses Grundeinkommen zu gewähren? Ist eine solidarische Bürgerversicherung für alle einem System der Wahlfreiheit zwischen gesetzlicher und privater Krankenkasse vorzuziehen? Soll es eine Schule inklusiv für alle geben, in der auch geistig behinderte Kinder mit normal entwickelten gemeinsam unterrichtet werden, oder ist ein exklusiv nach den jeweiligen Begabungen gegliedertes System das bessere? Dient es dem Kindeswohl, wenn homosexuelle Paare auch im Adoptionsrecht heterosexuellen Paaren gleichgestellt werden?

Da in den meisten westlichen Ländern, besonders in Deutschland, die politische Mitte seit Jahren stetig weiter nach links driftet, befinden sich ihre jeweiligen Gesellschaften in einem durch Relativismus und Egalitarismus verursachten Umwandlungsprozeß, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Dabei sind die Ideen, die diesen revolutionären Wandel befeuern, überraschenderweise weder ein Produkt der Postmoderne noch in irgendeiner Hinsicht neu, wie eigentlich zu erwarten wäre. Im Gegenteil: Sowohl der Egalitarismus als auch der Relativismus wurzeln in den Anfängen abendländischen Denkens.

Als kommunistisch-utopisches Gedankengut finden sich egalitaristische Vorstellungen bereits bei Platon, dann im Urchristentum, später als Entwürfe idealer Staatswesen bei den Renaissance-Philosophen Morus, Campanella und Bacon, bis im 19. und 20. Jahrhundert Marx, Engels und Lenin diese Visionen auf die Stufe einer „dialektisch-materialistischen Wissenschaft“ hoben. Ihnen zufolge ist der Kommunismus als höchste soziale Formation eine Gesellschaft des allgemeinen Wohlstands, in der das Prinzip herrscht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Im globalen Rahmen, so ihre Lehre, würden alle Nationen letztlich ineinander verschmelzen zu einer staaten- und klassenlosen Weltgemeinschaft. Diesen Traum teilen bis heute auch alle kosmopolitischen Linksliberalen.

Eine für den naiven Utopismus typische Idee war im letzten Bundestagswahlkampf die neokommunistische Forderung der Grünen Jugend Schleswig-Holsteins, die erste Klasse bei der Deutschen Bahn abzuschaffen. „Es geht nicht an, daß sich nur exklusive Leute exklusive Angebote leisten können“, erklärte ihr Sprecher. „Wir fordern: Komfort für alle!“ Unterstützung erhielt er von der Grünen-Landeschefin: „Die Trennung in erster und zweiter Klasse ist anachronistisch und paßt nicht mehr in unsere Zeit.“ (Die Welt, 9. August 2013)

Noch ältere Wurzeln als der Egalitarismus hat der Relativismus. Um 450 v. Chr. entwickelte er sich aus der von Athen ausgehenden Aufklärung und hatte in dem Sophisten („Weisheitslehrer“) Protagoras seinen bedeutendsten Stichwortgeber. Dessen berühmter, doch vielfach mißdeuteter Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ mündete letzten Endes in einem schrankenlosen Relativismus aller bislang geltenden Werthaltungen. Ist nämlich jeder einzelne das Maß der Dinge, die ja für die Individuen in tausendfältiger Verschiedenheit erscheinen, so stellt sich unausweichlich die Frage, woher die Maßstäbe für gut und schlecht genommen werden sollen, die alles Individuelle überwölben und für jeden verbindliche Normen begründen.

Heutige Parolen wie „Es ist normal, anders zu sein“ oder „Bunte Republik (Deutschland)“ hätten auch damalige Sophisten formulieren können. Die im Zeichen von Multikulturalismus und egoistischer – nicht zuletzt auch sexueller – Selbstverwirklichung erhobenen Forderungen nach „Toleranz“ und „Respekt“ für alle minoritären Gruppen sind ebenfalls Erscheinungsformen eines Neo-Sophismus.

In diese Reihe gehört natürlich auch die Geschlechter-Problematik. So erklärte der Gender-Forscher Heinz-Jürgen Voß auf die Frage, wie viele Geschlechter es gebe: „Unzählige. Das Geschlecht wird ja auf vielen Ebenen geprägt: durch Chromosomen, Hormone, Geschlechtsorgane, das Aussehen – und nicht zuletzt die Art, wie ich erzogen werde, mich kleide und mich selbst zuordne“ (Chrismon, 09/2013). Im Endeffekt führt dieser radikale Relativismus mit seiner Umwertung aller bisherigen Normen zur Auflösung jeder Gesellschaftsordnung.

Ein weiteres Erbe der antiken Denkschule ist deren anthropologischer Optimismus, der seit der 68er-Zeit wieder im Schwange ist und sich besonders im Bildungs- und Erziehungswesen verheerend auswirkt. Den Sophisten zufolge ist für die Wesenheit des Menschen nicht das ihm durch seine Abstammung mitgegebene, in seinem Kern unveränderbare Erbe entscheidend, sondern die Einwirkung von Umwelt und Erziehung.

Sophokles hatte sich noch ausdrücklich zu der althellenischen Überzeugung bekannt, die der Dichter Pindar mit einer Tier-Analogie umschrieb: „Die eingeborene Art wechseln weder der rötlich schimmernde Fuchs noch die brüllenden Löwen.“ Auch Goethe teilte diese Auffassung. In seinen „Urworten. Orphisch“ heißt es: „Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“ Doch schon der Sophist Antiphon hatte die entscheidende Prägung durch die Geburt negiert und statt dessen die alle Tradition umstürzende Maxime ausgegeben: „Das erste unter den menschlichen Dingen, so glaube ich, ist die Erziehung.“

Diese sophistische These wurde im Zuge der 68er-Bewegung zum Leitmotiv sozialdemokratischer Bildungspolitik, die mittlerweile auch von den „bürgerlichen“ Parteien geteilt wird. Gegen alle wissenschaftliche Erkenntnis von der Erblichkeit des Intelligenzquotienten (IQ) wird behauptet, für die Bildungsfähigkeit seien in erster Linie die sozialen Umstände ausschlaggebend. Da dieser Theorie zufolge jeder alles lernen kann, in der Realität aber die Kinder bessergestellter Eltern nach wie vor erfolgreicher sind, wird versucht, alle angeblich negativen Faktoren – nicht zuletzt das Elternhaus – auf staatlichem Wege auszuschalten: durch Einführung von ganztägig arbeitenden Einheits- und Gemeinschaftsschulen, durch Absenkung der Bildungsstandards, durch Abschaffung von Versetzungen, Noten, Prüfungen und Hausaufgaben. Das Ergebnis ist so erschreckend wie erwartbar: Obwohl mittlerweile mehr als fünfzig Prozent eines Jahrgangs die Schule mit einer Studienberechtigung verlassen, steigt die Zahl derer, die weder studier- noch ausbildungsfähig sind.

Der lautstark proklamierten „Bildungsrepublik Deutschland“ droht daher trotz aller für sie zur Verfügung gestellten Finanzmittel eine Katastrophe. Das Versagen beginnt bereits mit der frühkindlichen Pädagogik, die das Spaßprinzip zur obersten Maxime erhoben hat, statt die bis heute gültigen Einsichten eines Aristoteles zu beherzigen: „Man muß, wie Platon sagt, die Kinder schon von klein auf so anleiten, daß sie da, wo es am Platz ist, Lust und Unlust empfinden, denn darin besteht die richtige Erziehung. Das Lernen ist kein Spiel, sondern eine ernste Mühe. Die jungen Leute unterziehen sich wegen ihres unreifen Alters keiner Sache freiwillig, die ihnen nicht Freude macht.“ Heute jedoch ist das Leistungsprinzip weitgehend abgeschafft, und von manchen – so auch vom ehemaligen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück – wird sogar eine „Kultur des Scheiterndürfens“ gefordert.

Egalitarismus und Relativismus führen auf allen sozialen Ebenen zu einer verhängnisvollen Negativauslese. Der Leipziger Bevölkerungswissenschaftler Volkmar Weiss sieht die westlichen Gesellschaften daher auf dem Weg zu einer „Diktatur des Proletariats“, einer Herrschaft des Pöbels. Kennzeichen sei der kontinuierlich sinkende durchschnittliche Intelligenzquotient der Bevölkerung. Der Grund dafür, so schreibt er in seinem Buch „Die Intelligenz und ihre Feinde – Aufstieg und Niedergang der Industriegesellschaft“, liege in der modernen Massengesellschaft, die den ständigen Ausbau des Sozialstaats erzwinge. Dieser rege aber fatalerweise in erster Linie jene zur Reproduktion an, deren IQ unterdurchschnittlich sei und die deshalb zum Funktionieren der Wirtschaft – der Voraussetzung für den Wohlstand – wenig beitragen könnten.

Die 48jährige Ilse Bosch, als Enkelin des berühmten Industriellen Robert Bosch seit ihrer Geburt Millionenerbin, erklärte im Mai dieses Jahres in einem Interview: „Erben ist ein Schicksal – so wie Talent und Schönheit.“

Mit dieser die Fakten des Lebens beim Namen nennenden Wahrheit können und wollen sich Linke und Linksliberale jedoch nicht abfinden. Sich finanziell auszahlende Früchte der Ungleichheit denunzieren sie daher entweder als „soziale Ungerechtigkeit“, gegen die sie scheeläugige Neidkampagnen schüren, oder sie versuchen, mit gleichmacherischen Initiativen alles körperlich oder geistig Herausragende aus der Welt zu schaffen, indem sie es auf ein ihnen erträgliches Maß herunterstufen. So nahm die Berliner Grünen-Politikerin Marianne Burkert-Eulitz Anstoß daran, daß junge Frauen, die an einer Miß-Wahl teilnehmen, vor allem schön sein müssen. „Bei Miß-Wahlen“, klagte sie, „werden Menschen ausgeschlossen, das ärgert mich.“ Statt dessen, so schlug sie vor, sollten alle bei derartigen Wettbewerben eine Chance haben – auch weniger hübsche Mädchen (Märkische Allgemeine Zeitung, 15. Mai 2013).

Doch die angeborene Ungleichheit bleibt nun einmal ein nicht hintergehbares factum brutum – ebenso wie das schonungslose, aber ehrliche Urteil Schopenhauers, die meisten Menschen seien bloß „Fabrikware der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt“. Natürlich wird jeder, der dieses Diktum wiederholt, sofort der „Menschenfeindlichkeit“ geziehen werden. Es hilft aber nichts: Da die Natur weder demokratisch noch respektvoll ist, hat sie „durch die höchst ungleichmäßige körperliche Ausstattung und geistige Begabung der Einzelnen Ungerechtigkeiten eingesetzt, gegen die es keine Abhilfe gibt“ (Sigmund Freud).

Gleichwohl wird fieberhaft versucht, das Schicksal zu korrigieren. Schönheitschirurgen und Doping-Mediziner arbeiten mit prächtigem Gewinn und häufig zweifelhaftem Erfolg an der Verbesserung der Körper, während der demokratische Wohlfahrtsstaat auf sozialem Gebiet alles unternimmt, den Zukurzgekommenen auf die Beine zu helfen. Solange sich diese Maßnahmen darauf beschränken, allen im Rahmen des Möglichen faire Chancen zu eröffnen, ist nichts dagegen einzuwenden. Die modernen Sophisten zielen indes darauf ab, die Gesellschaft zu nivellieren, um desto leichter ihre Macht ausüben zu können. Die Prophezeiung Orests in der gleichnamigen Tragödie des Euripides sollte daher eine ständige Mahnung sein: „Furchtbar ist des Volkes Mehrheit, / Wenn sie dreiste Führer hat.“

 

Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das US-Ausspähprogramm und die Demokratie („Die Welt, sie ist nicht so“, JF 33/13).

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