© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

Stalin auf dem linken Fuß erwischt
Viktor Suworow und kein Ende: Russische Debatte über militärische Pläne der Sowjetunion 1941
Jürgen W. Schmidt

Im Jahr 1989 erschütterte ein übergelaufener sowjetischer Geheimdienstoffizier unter dem Pseudonym Viktor Suworow mit seinem Buch „Der Eisbrecher“ die Fachwelt, behauptete er doch, Hitler wäre am 22. Juni 1941 mit seinem Angriff nur um wenige Wochen einem Vorstoß Stalins Richtung Deutschland zuvorgekommen.

Die darauffolgende Auseinandersetzung nahm schnell die Form eines „Glaubenskrieges“ an. Suworow und seine Parteigänger wurden insbesondere vom deutschen akademischen Establishment verdächtigt, Hitler mit jener These exkulpieren zu wollen. Der Historiker Bogdan Musial erneuerte im Jahr 2008 diese Debatte. In seinem Buch „Kampfplatz Deutschland – Stalins Kriegspläne gegen den Westen“ belegte er, daß sich Suworow bei der Interpretation der politischen Absichten Stalins keineswegs geirrt hat, höchstens bei seiner These vom im Sommer 1941 unmittelbar bevorstehenden militärischen Antreten Stalins gegen Deutschland.

Mittlerweile ist bekannt, daß Stalin im Jahr 1941 nicht nur über die stärkste Luftflotte und die zahlenmäßig größte Panzerarmee weltweit verfügte, sondern sogar Flottenrüstungen betrieb, gegen die der deutsche „Z-Plan“ ein laues Lüftchen war. Alle diese teuren Rüstungen allein nur zur Verteidigung des Sowjetlandes? Aber ja, folgt man den Gedankengängen der Konstanzer Geschichtsprofessorin Bianka Pietrow-Enncker im von ihr herausgegebenen Sammelband „Präventivkrieg – Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion“ (erweiterte Neuausgabe Frankfurt/M. 2011) oder gar dem schwachbrüstigen Büchlein des Potsdamer Militärhistorikers Rolf-Dieter Müller „Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939“ (Berlin 2011). Dabei wäre alles sehr einfach. Man brauchte doch nur die im Juni 1941 gültigen Kriegsplanungen der Sowjetunion veröffentlichen, oder liegen hier etwa Leichen im Keller? Soeben hat der sich als „Antisuworowist“ verstehende Moskauer Militärhistoriker Aleksej Isaev in seinem 650-Seiten-Werk „Das Wunder der Grenzschlachten – Was geschah eigentlich im Juni 1941?“ (Moskau 2013) einen Zipfel des Geheimnisses um die sowjetischen Militärplanungen gelüftet.

Um diese Planungen und deren ständige Abänderungen in den Jahren 1940/41 zu verstehen, muß man zuvörderst wissen, daß der Posten des dafür verantwortlichen Generalstabschefs nicht ohne Zutun Stalins in schneller Folge dreimal wechselte. Bis August 1940 war für die Planungen Marschall Boris Schaposchnikow zuständig, ein konservativer Fachmann, der seine Generalstabsausbildung noch in der Zarenarmee absolvierte. Auf ihn folgte kurzzeitig bis Februar 1941 Kirill Merezkow, der vorher praktische Erfahrungen im Finnlandfeldzug sammelte. Ab Februar 1941 bekleidete den Posten schließlich der vormalige Chef des wichtigen Kiewer Militärbezirks Georgi Schukow, ein ausgesprochener Angriffsspezialist. Schukow brachte als neuen Leiter der Operativen Abteilung des sowjetischen Generalstabs seinen Kiewer Stabschef General Nikolai Watutin mit, so daß nunmehr alle Planungen von einer „Kiewer Mafia“ herrührten.

Selbst eine Großmacht wie die Sowjetunion kann nicht aus dem „Kaltstart“ zu Kampfhandlungen, egal ob Verteidigung oder Angriff, übergehen. Die sowjetischen Streitkräfte um 1941 benötigten eine Mobilisierungsphase von etwa dreißig Tagen. Als „Antisuworowist“ besteht Isaev darauf, daß die sowjetischen militärischen Planungen Verteidigungsplanungen waren.

Er ist aber zumindest so ehrlich zu sagen, daß es sich um eine „aktive Verteidigung“ handelte. Demgemäß hatte der Baltische Militärbezirk gemäß Marschall Schaposchnikow Ostpreußen und dessen Befestigungsanlagen anzugreifen. Unter Merezkow, der im Winter 1939/1940 in Finnischen Winterkrieg erlebte, wie schwer sich die Rote Armee mit Angriffen auf Befestigungsanlagen tat, wurde diese Aufgabe modifiziert und unter Schukow gänzlich abgeändert.

Der kräftemäßig gerupfte „Baltische Besondere Militärbezirk“ („Nordwestfront“) brauchte im Kriegsfall Ostpreußen nicht mehr einzunehmen, sondern mußte die dortigen Truppen nur noch durch aktive Handlungen fesseln. Auch der „Westliche Besondere Militärbezirk“ („Westfront“), der vorher gemäß Merezkows Planungen nach Westen in Richtung auf Lublin und Krakau, später auf Breslau vorstoßen sollte, wurde ab Februar 1941 von Schukow nur noch für einen „Hilfsstoß“ vorgesehen und gleichfalls kräftemäßig geschwächt.

Dafür sollte gemäß Schukow ab Februar 1941 der alles entscheidende sowjetische Stoß von der „Südwestfront“ (dem früher von Schukow geführten „Kiewer Militärbezirk“) geführt werden. Der Militärbezirk wurde deshalb mit Truppen vollgepfropft und erhielt zu Lasten der anderen Militärbezirke die meisten und die besten der neuen Panzer. Im Rahmen einer von Schukow präferierten „Südvariante“, im Gegensatz zur vorherigen „Nordvariante“ Schaposchnikows und Merezkows, plante man jetzt südlich von Brest auf breiter Front Richtung Bratislava-Lublin-Breslau vorzustürmen, dem Feind im südlichen Polen eine vernichtende Niederlage zuzufügen und Deutschland vom Balkan abzuschneiden.

Es bestanden durchaus Erfolgsaussichten, doch waren vorher dreißig Tage zur ordnungsgemäßen Mobilmachung und Entfaltung der Roten Armee nötig. Ein Zeitrahmen, den Schukow anscheinend glaubte anläßlich einer allmählichen Zuspitzung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zur Verfügung zu haben. Allerdings wurde man im Frühjahr 1941 aus den deutschen Handlungen nicht mehr schlau. Politische Forderungen wurden an die Sowjetunion nicht gerichtet, und trotzdem lag Ende Mai schon fast die Hälfte aller Infanteriedivisionen der Wehrmacht im Osten – die Panzerdivisionen wurden erst zuletzt zugeführt.

Zum ordnungsgemäßen Anlaufen der gewaltigen sowjetischen Militärmaschinerie hätte Stalin aber spätestens am 20. Mai auf den „roten Knopf“ drücken müssen. Nun stellte man um den 15. Juni 1941 herum entsetzt fest, den richtigen Zeitpunkt dafür verpaßt zu haben. Eilig angeordnete Maßnahmen, Truppen der Grenzmilitärbezirke in die Deckungsabschnitte zu verlegen und Reserven aus den inneren Militärbezirken anrücken zu lassen, brachten das System der sowjetischen Mobilmachung zusätzlich durcheinander, als Hitler am 22. Juni 1941 aus dem Stand ohne jegliche „diplomatische“ Vorwärmphase antrat.

In seiner Analyse der Grenzschlachten kommt Isaev zum Ergebnis, daß der Kriegsverlauf 1941 ganz anders ausgesehen hätte, wäre eine dreißigtägige sowjetische Mobilmachung ungestört möglich gewesen. Isaev bestätigt somit de facto die Erkenntnisse von Musial, daß Hitler zwar keinen Präventivschlag führte, aber den durchaus kriegsbereiten und kriegswilligen Stalin durch seinen unkonventionellen Angriff auf dem „linken Fuß“ erwischte. Dies führte zu einem Trauma, welches die sowjetische Militärdoktrin jahrzehntelang prägen sollte.

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