© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

Fliegerei in schwerer See
Ein Band über 100 Jahre deutsche Marinefliegerei klammert aktuelle Probleme aus: Mehr Aufgaben bei deutlich weniger Ressourcen
Rolf Bürgel

Am 3. Mai 1913 erfolgte durch eine von Kaiser Wilhelm II. verfügte „Allerhöchste Kabinetts-Ordre“ die Aufstellung einer Marine-Luftschiffabteilung mit Zeppelinen in Johannisthal bei Berlin und einer Marine-Fliegerabteilung mit Starrflüglern in Putzig bei Danzig. Das war der Geburtstag der deutschen Marineflieger, der sich in diesem Jahr somit zum einhundertsten Mal jährt.

Dieses Jubiläum hat der renommierte Mittler-Verlag durch Herausgabe eines repräsentativen Bandes gewürdigt, herausgegeben von Heinrich Walle, Fregattenkapitän a.D., im Auftrag des Deutschen Maritimen Instituts (DMI). Es ist ein Sammelband mit 16 Beiträgen von 20 durchweg in der Marinefliegerei ausgewiesenen Fachleuten. In ihnen wird ein Jahrhundert deutscher Marinefliegerei in thematischen Schwerpunkten unter einer Vielzahl von Aspekten lebendig.

Auf einen allgemeinen geschichtlichen Überblick folgen Berichte über die Organisations- und Kommandostruktur, die Rolle der Marineflieger im Kalten Krieg, Einsatzflüge im Rahmen von UN-, Nato- und EU-Mandaten, die eingesetzten Flugzeug- und Hubschrauber-Typen, die Marineflieger der DDR-Marine sowie die Marinefliegerlogistik. Abgerundet wird der Band durch die Vorstellung des Aeronauticum, des Deutschen Luftschiff- und Marinefliegermuseums als Technikmuseum vor den Toren des Marinefliegergeschwaders 3 „Graf Zeppelin“ in Nordholz bei Cuxhaven.

Es ist ein Buch, geschrieben von Marinefliegern für Marineflieger, sehr engagiert, teilweise sehr persönlich und erfüllt vom Stolz auf die eigene Waffengattung. Leider ist die Darstellung oft etwas zu vordergründig. Man vermißt die Gedankentiefe, wie sie die Arbeit von Heinz Dieter Jopp „Die dritte Dimension – Seeflieger heute und morgen“ in „Faszination See – 50 Jahre Marine der Bundesrepublik Deutschland“ (Mittler 2005) auszeichnet. Wichtigen Aspekten in der Geschichte der Marineflieger wird so nicht die Bedeutung beigemessen, die sie für eine wirklich umfassende Darstellung hätten haben müssen.

Das Grundproblem der Marineflieger war, daß sie als integraler Bestandteil einer Seekriegführung auf, unter und über Wasser immer wieder in Frage gestellt wurden. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg waren sie nur Teil der Luftwaffe. Dagegen war der Neustart nach 1956 dann zunächst durchaus verheißungsvoll. Aufgrund der Erfahrungen aus dem Krieg erhielt die nunmehrige Bundesmarine wieder eigene Luftstreitkräfte. Zeitweise stellten sie mit vier Marinefliegergeschwadern mit bis zu 200 Flugzeugen – davon 110 Jagdbomber – und Hubschraubern sogar das größte Typkommando der Flotte dar.

Aber nach dem Ende des Kalten Krieges wurde infolge von Sparmaßnahmen zuerst das Marinefliegergeschwader 1 aufgelöst. 2005 löste Bundesverteidigungsminister Peter Struck dann auch das Marinefliegergeschwader 2 auf. Seine Begründung: „Wir denken, daß es keinen Sinn mehr macht, ein eigenes Marinefliegergeschwader zu haben. Das Marinefliegergeschwader soll in die Luftwaffe integriert werden.“ Die gemachten Erfahrungen schienen vergessen.

Es war also keineswegs „die Entscheidung der Marine, auf die Fähigkeiten der Jagdbomberkomponente verzichten zu können“, wie in dem Buch dargestellt – im Gegenteil: Die Auflösung des MFG 2 hat in der Marine blankes Entsetzen ausgelöst, wovon in dem Buch so gut wie gar nichts zu spüren ist. Noch 2003 hat der Marineinspekteur, Vizeadmiral Lutz Feld, festgestellt, daß „die Eggebeker Tornados als integraler Bestandteil einer Einsatzgruppe von Marinefliegern dringend benötigt werden“. Heute, zehn Jahre später, stellt sich die Frage, ob und wie die Luftwaffe die ihr zugewachsenen neuen Aufgaben und die dazu erforderliche Kooperation mit der Marine bewältigt, eine Frage, die in dem Buch ebenfalls nicht gestellt wird.

Aber das Fehlen der Jagdbomberkomponente ist nicht das einzige Problem der Marineflieger. Auch in anderen Bereichen der See-Luftrüstung wird – wie in der gesamten Bundeswehr – zu Lasten ihrer Einsatzfähigkeit gespart, obwohl die inzwischen weltweiten Aufgaben immer umfangreicher und vielfältiger werden. Zwar wurde der in die Jahre gekommene Seefernaufklärer Breguet Atlantic durch die modernere P-3C Orion abgelöst, gleichzeitig aber die Anzahl der Maschinen von bisher 12 auf 8 reduziert. Und auf den Hubschrauber MH 90 (nicht NH 90!) – konzipiert als Bordhubschrauber für die neuen Fregatten der Klasse F 124 – warten die Marineflieger bereits seit Jahren.

Alle diese Fragen werden nur unzureichend thematisiert. So ist die vorgelegte Geschichte der Marineflieger eigentlich nur die halbe Geschichte. Hier macht sich das Fehlen eines ausgewiesenen Marinehistorikers im Autorenteam bemerkbar. Obwohl es also weniger ein Geschichtswerk ist, als vielmehr ein Geschenk, das Herausgeber und Verlag den Marinefliegern zu ihrem Ehrentag machen, ist es doch ein wirklich schönes Buch, flüssig und interessant geschrieben. Es ist reich ausgestattet mit spektakulärem Bildmaterial, nicht nur im Buch selbst, sondern besonders auf einer beigefügten DVD. Daher sollte es in keiner marinegeschichtlichen Bibliothek fehlen.

Heinrich Walle: 100 Jahre Marineflieger. 1913–2013. Deutsches Maritimes Institut (Hrsg.). Verlag Mittler & Sohn, Hamburg 2013, gebunden, 232 Seiten, Abbildungen, 29,80 Euro

Foto: Sea-Lynx-Hubschrauber auf dem Achterdeck einer Fregatte: Alle Erfahrungen in den Wind geschlagen

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