© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

Perfide Opferverhöhnung
Ein Sammelband über die „Deutungshoheit" in der Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen offenbart sich unfreiwillig als perfektes Anschauungsobjekt
Ekkehard Schultz

Wenn es bis zum Ende der SED-Diktatur in Mitteldeutschland galt, gewisse Parteien und Vereine in der Bundesrepublik als politisch fragwürdig zu brandmarken, dann erfolgte die Beweisführung nach dem immer gleichen Muster: Zunächst wurde nach möglichen NS-Beziehungen dieser Vereinigungen oder einzelner Personen gesucht oder solche gegebenenfalls sogar mit gefälschten Dokumenten konstruiert. Anschließend galt es, die Organisationen – soweit sie auch nur einen Bezug zur Wiedervereinigung aufwiesen – als „revanchistisch“ und „konterrevolutionär“ zu bezeichnen. Und am Schluß folgte stets die gleiche Gegenüberstellung zwischen den „progressiven Kräften“ und den rückwärtsgewandten „Kalten Kriegern“.

Liest man vor diesem Hintergrund den von Wolfgang Benz, ehemaliger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, jüngst herausgegebenen Sammelband „Ein Kampf um Deutungshoheit“, stellen sich fast zwangsläufig Assoziationen an diese speziellen DDR-Strategien ein. Dabei erheben seine Autoren einen überaus hohen Anspruch: Sie sollen den seit Jahren anhaltenden Konflikt zwischen Opfervertretern und der Gedenkstättenleitung des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses der sowjetischen Geheimdienste in der Potsdamer Leistikowstraße näher beleuchten.

Dort wurden berüchtigte Urteile der Militärtribunale verhängt, neben Todesurteilen zumeist langjährige Zwangsarbeit in der Sowjetunion. Längst ist historisch belegt, daß sich nur ein Bruchteil der Gefangenen tatsächlicher Verbrechen schuldig gemacht hatte. Ein bloßer Spionageverdacht reichte ebenso aus wie die Kritik an der neuen Besatzungsmacht, eine Beteiligung an der Gründung demokratischer Organisationen oder der schwammige Diversionsvorwurf. Der überwiegende Teil der ehemaligen Häftlinge wurde von Rußland in den 1990er Jahren rehabilitiert.

Um so begreiflicher ist es, daß sich die hochbetagten Überlebenden nicht nur für eine seriöse Dokumentation ihres Schicksals am ehemaligen Haftort einsetzen, sondern auch für eine Darstellung des historischen Kontextes – des bereits seit den 1920er Jahren unter kommunistischer Herrschaft errichteten Lagersystems.

Tatsächlich wurden ihnen seit der Übernahme des KGB-Gefängnisses durch die 2008 gegründete Stiftung Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße, die von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten treuhänderisch verwaltet wird, immer wieder Steine in den Weg gelegt. Zwar entstand in relativ kurzer Zeit neben dem noch weitestgehend original erhaltenen Gefängnis eine neue Einrichtung, die für Veranstaltungen und Zeitzeugengespräche konzipiert war. Tatsächlich wurde dieser Raum nach seiner Einweihung jedoch kaum genutzt.

Zudem erregte die Leiterin, Ines Reich, vielfach Ärger. So weigerte sie sich, während der über dreijährigen Interimszeit bis zur Einrichtung einer neuen Dauerausstellung noch die alte Präsentation „Von Potsdam nach Workuta“ zu zeigen, die von der Menschenrechtsorganisation Memorial erstellt worden war. Angeblich seien die großformatigen Tafeln nicht feuerfest gewesen.

Als schließlich die neue Ausstellung im April 2012 erstmals der Öffentlichkeit gezeigt wurde, waren viele Zeitzeugen enttäuscht. Zwar wird darin auf das Schicksal einiger Insassen eingegangen. Gleichzeitig bleibt jedoch der historische Hintergrund verschwommen. Während die – zumindest umstrittene – Rolle des Gefängnisses als Ort der Entnazifizierung herausgestellt wird, bleibt die reale Eingliederung in das sowjetische Gulag-System diffus.

Von Begriffen wie „kommunistische Gewaltherrschaft“ und „kommunistische Verbrechen“ nahmen die Ausstellungsmacher generell Abstand. Statt dessen wird mit Euphemismen wie „wenig nahrhaftes Essen“ als zynisches Synonym für Hunger gearbeitet. Dies war wiederum die Ursache dafür, daß Zeitzeugen bereits bei der Eröffnung der Dauerausstellung medienwirksam dagegen protestierten.

Anstatt sich mit diesen Kritikpunkten auseinanderzusetzen, kommt der Sammelband in weiten Teilen einem einseitigen Rechtfertigungsversuch für die Gedenkstättenleitung gleich. So gehen lediglich zwei Autoren überhaupt auf die Kritik der Zeitzeugen ein. Statt dessen wird um so umfangreicher nach vermeintlichen Motiven der Opfer und ihrer Institutionen gesucht. Bereits in der Einleitung unterstellt Benz den Kritikern, für eine „Einebnung“ und „Aufrechnung“ der Verbrechen verschiedener totalitärer Regime einzutreten. Dabei stellt er den nach seiner Ansicht „rationalen, objektiven und kritischen Betrachtungen durch Experten“ die angeblich emotionalen und „politisch instrumentalisierenden“ Ansichten von Zeitzeugen gegenüber.

Auch die meisten anderen Autoren argumentieren auf ähnlicher Basis. So widmet sich etwa Martin Jander, der bereits seit Jahren in diversen Aufsätzen einen Zusammenhang zwischen den Opfervereinigungen der kommunistischen Gewaltherrschaft und rechtsextremen Organisationen unterstellt, der Geschichte des in den 1990er Jahren gegründeten Dachverbandes, der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG). Jander sieht in ihr vor allem Vertreter eines „erneuten deutschen Opfermythos“ und eines „radikalen Opfermythos“ am Werk, die damit nahtlos an die antikommunistischen Positionen aus der Zeit des „Kalten Krieges“ anknüpfen würden.

In fast identischer Weise argumentiert auch Enrico Heitzer in einem Aufsatz zur Tätigkeit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) in den 1950er Jahren. Obwohl Heitzer dabei selbst auf Spannungen zwischen der KgU, deren Methoden durchaus umstritten sind und die nachweislich von westlichen Geheimdiensten unterstützt wurde, und der bereits 1950 gegründeten Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) verweist, wird die damalige VOS von ihm nahezu unterschiedslos in die Reihe der „umstrittenen Organisationen“ gestellt – offensichtlich allein auf der Grundlage einiger personeller Berührungspunkte und von vermeintlich „verwandten Zielen“.

Diese Methodik wird auf andere Stellen der Aufarbeitung von DDR-Unrecht ausgeweitet. Ohne jeglichen Nachweis unterstellt etwa Carola Rudnick dem Leiter der Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, mit „Erpressungen“ zu arbeiten und das Ziel zu verfolgen, die einstige MfS-Untersuchungshaftanstalt zu einer „Propagandaeinrichtung“ umzuformen. Im Gegenzug dazu habe der alte rot-rote Senat in der Bundeshauptstadt „einen sachlichen Umgang mit der Geschichtsmaterie und eine differenzierte Darstellung der SBZ und DDR“ angestrebt, so Rudnick. Nicht zufällig bedauert die Autorin an anderer Stelle die allzu rasche „Delegitimierung der DDR“ nach 1989.

Tatsächlich enthält der Sammelband auch einige lesenswerte Artikel. So wird in Andreas Hilgers Beitrag „Der Gulag in Deutschland“ der aktuelle Forschungsstand kurz und prägnant dargestellt, und auch das Gespräch zwischen Winfried Meyer und Roland Brauckmann enthält interessante Verweise. All dies verblaßt jedoch hinter der Mehrzahl der Darstellungen, die hinter vielen Fußnoten den Eindruck der Befangenheit und Voreingenommenheit wie auch der Häme gegenüber den Opfern nicht einmal im Ansatz verbergen.

Der Band „Ein Kampf um Deutungshoheit“ ist somit selbst ein Lehrstück dafür, wie unterschiedlich nicht nur die Ansätze für die Aufarbeitung der Diktaturen des 20. Jahrhunderts sind, sondern auch dafür, mit welchen Methoden in diesem Kampf operiert wird. Zugleich zeigt es, wie den spätestens seit der friedlichen Revolution 1989 eigentlich überholten Geschichtsbildern der Teilungsperiode nicht nur eine weiterreichende Legitimität, sondern auch in einem bestimmten Maße eine Deutungsmacht verliehen werden soll.

Wolfgang Benz (Hrsg.): Ein Kampf um Deutungshoheit. Die Auseinandersetzun-gen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam. Metropol-Verlag, Berlin 2013, broschiert, 294 Seiten, 19 Euro

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