© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

Higgs’ Wende
Vom klassischen Weltbild bleibt in der Elementarteilchenphysik kaum noch etwas übrig
Michael Strube

Der Planet Erde stand im Zentrum des antik-christlichen Weltbildes. Die Berechnungen des deutschen Astronomen Nikolaus Kopernikus (1472–1543) haben ihn daraus verdrängt. Verfeinerte moderne Kosmologien lassen selbst unser Sonnensystem als Staubkorn im Universum erscheinen. Die kopernikanische Wende benötigte etwa 250 Jahre, um zum Alltagswissen zu gerinnen. Der vergleichbar tiefgreifende Weltbildwandel, der die moderne Physik Ende des 19. Jahrhunderts ergriff, ist hingegen auch nach 150 Jahren nicht über kleinste Expertenkreise hinaus wahrgenommen worden.

Nur kurz währte etwa die öffentliche Sensation, als 2012 am Large Hadron Collider in Genf, der „größten Maschine der Welt“ (Eigenwerbung), auf der Suche nach den elementaren Bausteinen der Materie das Higgs-Boson-„Gottesteilchen“ nachgewiesen, aber noch nicht vollständig bestätigt werden konnte. Ein Nachhallen dieser flüchtigen Aufmerksamkeit erzeugte die Vergabe des diesjährigen Physiknobelpreises an den Engländer Peter Higgs, der 1964 das nach ihm benannte physikalische Feld entdeckte, das allen anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht.

Die nur sporadische Medienpräsenz der Elementarteilchenphysik ist kein Zufall. Obwohl die von ihr forcierte Erforschung der subatomaren Welt, ihrer elementaren Bestandteile und der zwischen ihnen wirkenden Kräfte seit 1930 spektakuläre Fortschritte gemacht hat und ihr weltweit Unsummen von Steuergeldern zufließen, leidet sie an einem unlösbaren Vermittlungsproblem.

Der Wissenschaftsjournalist Rüdiger Vaas, der im deutschen Sprachraum wohl fleißigste Dolmetscher der surreal anmutenden Rede von Leptonen, Hadronen, Photonen, Baryonen, Mesonen, Quarks oder Neutrinos, räumt denn auch in seiner jüngsten Übersicht zur Geschichte der Disziplin und ihren vielen ungelösten „fundamentalen Fragen“ (Naturwissenschaftliche Rundschau, 9/13) einmal mehr ein, daß die Theorien, die erklären wollen, woraus die Welt denn nun wirklich besteht, „jede anschauliche Vorstellung sprengen“.

Darum bleibt diese Wissensrevolution noch für unabsehbare Zeit auf rund 14.000 Menschen beschränkt, die zur internationalen Gemeinschaft der Hochenergiephysiker zählen, darunter 2.500 Männer und Frauen am europäischen Forschungszentrum CERN in Genf.

Unklar bleibt auch, anders als bei den religiöse Überzeugungen erschütternden Theorien von Kopernikus oder Darwin, welche gesellschaftlichen Konsequenzen der Abschied von dem im 21. Jahrhundert weiterhin dominanten mechanistischen Weltbild denn hätte. Isaac Newtons Atomismus ging von der Zusammensetzung der Dinge aus unzerlegbaren Massenpunkten aus.

Noch bis in die sechziger Jahre ähnelten dem die Modelle der Elementarteilchenphysik, denen zufolge sich jedes der bis dahin erfaßten 300 Partikel des „Atomkerns“ aus anderen Teilchen zusammensetzte, ohne daß einzelne Partikel elementarer als andere wären. Erst das bis heute gültige „Standardmodell“ der siebziger Jahre reduzierte diesen „Teilchenzoo“ auf zwölf Elementarbausteine, offenbarte aber den rein metaphorischen Charakter von Begriffen wie Atom, Teilchen, Baustein.

„Das Konzept der Teilbarkeit“ sei an seine Grenzen gestoßen, und es sei unklar, vermerkt Vaas, ob Quarks und Leptonen, die angeblich elementaren Bestandteile des Standardmodells, tatsächlich „elementar“ seien und nicht weitere Substrukturen enthielten. Theoretische Annahmen sprächen indes dafür, daß sich mit einer tieferen „Schicht“ das Modell weiter vereinfachen lasse. Im Rahmen der 1968 konzipierten Stringtheorie sind Elementarteilchen nicht punktförmig, sondern als Anregungsformen („Schwingungsmoden“), als vibrierende Saiten („Strings“, JF 51/09) zu denken. Hier habe die Quantenphysik vom klassischen Atomismus nicht mehr viel übriggelassen und selbst vertraute Gegensätze wie zwischen Kraft und Stoff, Strahlung und Materie „aufgelöst“.

Doch ungeachtet dieser „atemberaubenden, keineswegs abgeschlossenen Entwicklung“ ist Vaas überzeugt davon, daß die Physik der Elementarteilchen auf traditionelle Weltbildmuster nicht verzichten kann, nicht auf deren methodische Maximen, auf die atomistische Erklärungsstrategie, das Streben nach explanatorischer Vereinfachung und nicht einmal auf „metaphysische Intuitionen“.

The Large Hadron Collider am CERN in Genf: home.web.cern.ch  www.naturwissenschaftliche-rundschau.de

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