© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Staunend im Reich der Mitte
China: Eine Zeitreise zwischen Nostalgie und Modernisierungswahn
Matthias Bath

Flug von Frankfurt mit einem vielleicht 20 Jahre alten Jumbo-Jet von Air China. Ankunft um 5.30 Uhr. Der riesenhafte Pekinger Flughafen ist zu dieser frühen Stunde noch nahezu menschenleer. Auch unser örtlicher Reiseleiter hat vergessen, uns abzuholen.

So machen wir uns nach einer Stunde vergeblichen Wartens mit einem Linienbus auf den Weg in Richtung Hotel. Wir fahren auf dem 3. Schnellstraßenring stadteinwärts und stehen schon lange vor dem Erreichen bebauten Gebietes im Stau. Schließlich tauchen die ersten Hochhäuser auf. Peking präsentiert sich als eine endlose Ansammlung von Hochhäusern, die von verstopften, meist sechsspurigen Schnellstraßen durchzogen wird. Ein Stadtbild im engeren Sinne ist nicht zu erkennen.

An einer Haltestelle bedeutet uns der Busfahrer auszusteigen. Wir seien nun in der Nähe des Hotels und müßten uns für den Rest der Fahrt ein Taxi nehmen. Nach einigen Mühen finden wir auch ein Taxi und gelangen in abenteuerlicher Fahrt durch den engen Verkehr zum Hotel. Dort sind wir tatsächlich gebucht.

Schließlich erscheint auch der Reiseleiter gegen 12 Uhr. Das Hotel ist ein Palast mit marmorner Empfangshalle, chinesischen Antiquitäten und defekter Klimaanlage. Gegenüber befindet sich ein Supermarkt. Das Warenangebot ist reichhaltig, aber die Präsentation etwas angestaubt. Ausländische Produkte sind nicht unbedingt zu erkennen. Die Verpackungen sind überwiegend chinesisch. Immerhin fallen uns Stände von L’Oréal und Tempo auf. Auch der Schokoladenhersteller Dove ist stark vertreten. Es gibt Coca-Cola mit chinesischer Schrift.

Wir besuchen den Platz des himmlischen Friedens und die Verbotene Stadt. Auf dem Platz bieten zahlreiche fliegende Händler Postkartensets, touristische Bücher und Souvenirs an. Sie gehen offensichtlich ganz legal ihrem Gewerbe nach und werden von den ebenfalls zahlreich anwesenden uniformierten und zivilen Sicherheitskräften geduldet.

Verteten sind überwiegend asiatische Touristen, vielleicht auch nur einheimische Besucher. Am Nordende des Platzes liegt das Tor des Himmlischen Friedens aus dem Jahr 1417, das zugleich den Eingang zur Verbotenen Stadt bildet. Von hier verkündete Mao im Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik China. Sieht man einmal von dem Mao-Porträt über dem Tor und dem Polizeiaufgebot auf dem Platz ab, hat man nicht den Eindruck, in einem kommunistischen Land zu sein. Zumindest ist von der Allgegenwart der Partei nichts zu spüren.

Traditionelle chinesische Wohnviertel mit ebenerdigen Hofhäusern gibt es in Peking nur noch wenige. Wir besuchen einen derartigen unter Denkmalschutz stehenden Hutong und werden mit einer Fahrradrikscha durch die abweisenden grauen Gassen gefahren.

Die nach außen unbewohnt wirkenden Häuser öffnen sich nach innen zu den Höfen. Dabei haben die Gebäude meist nur zwei oder drei Räume, die alle zum Hof weisen. Zu einer Wohnung können aber mehrere derartiger Häuser gehören. Noch vor 50 Jahren hat die Masse der chinesischen Stadtbewohner in Hutongs gewohnt. Heute sind die Stadtverwaltungen bemüht, möglichst viele Menschen in Hochhauskomplexen unterzubringen. Die alten Hutongs müssen den neuen Hochhäusern weichen. Letztlich werden wohl nur einzelne alte Anlagen als Muster für die Lebensweise früherer Zeiten übrigbleiben.

Bahnfahrt nach Taiyuan. Von hier aus mit dem Kleinbus über Landstraßen durch die Abenddämmerung 100 Kilometer weiter nach Pingyao. Der Verkehr ist rasant. Zweiräder und Dreiradrikschas fahren grundsätzlich ohne Beleuchtung. Die Altstadt von Pingyao bietet das Bild einer chinesischen Landstadt, wie es vor hundert Jahren landestypisch war. Seit 1997 gehört sie zum Unesco-Weltkulturerbe. Um die Altstadt herum liegt die moderne Kreisstadt gleichen Namens mit 400.000 Einwohnern.

Abends sind wir im Bahnhofsviertel von Taiyuan. Es gibt viele Geschäfte, aber auch lebhaften Straßenhandel, mit fast allem, was man sich vorstellen kann. Vor allem viel Elektronik, neuwertige Mobiltelefone, aber alle aus chinesischer Produktion, die wir in Europa nicht kennen. In zurückgezogener Lage fallen mir ein kleiner Laden für Kondome und zwei Geschäfte weiter ein kleiner, schmuddeliger Sex-Shop auf. Wir sind in China?!

Der Nachtzug nach Xian hat bestimmt seine 50 Jahre auf dem Buckel und strahlt den Charme früherer Zeiten aus. Bereits die Fahrt 1. Klasse im engen Vierbettabteil ist eine Tortur. Der einzige Trost ist ein Blick in die 2. Klasse. Hier haben die Abteile jeweils sechs Betten und sind zum Gang hin offen. Dennoch bleibt die Nacht grauenhaft und wir kommen um 7.20 Uhr völlig zerschlagen an.

Die erste Hauptstadt Chinas zählt heute etwa acht Millionen Einwohner. Unweit unseres Hotels befand sich der östliche Endpunkt der Seidenstraße des Mittelalters. Von hier aus wurde Handel bis nach Konstantinopel getrieben. Heute befindet sich hier ein modernes Einkaufszentrum im altchinesischen Stil, der Tang-Westmarkt. Auch hier gibt es einen Lebensmittelmarkt mit einem umfassenden Warenangebot. Auffällig ist, daß hier selbst Schokoriegel mit elektronischen Diebstahlsicherungen versehen sind.

Vor dem Tang-Westmarkt befindet sich ein Denkmal für die Seidenstraße, mit dem der völkerverbindende mittelalterliche internationale Handel gepriesen wird. Anscheinend ist dies der dialektische Weg, auf kommunistische Weise die Renaissance des Kapitalismus zu erklären. Keine Frage – die Chinesen sind ein Handelsvolk, dem konnten auch 30 Jahre Mao-Bauernkommunismus nichts anhaben.

Inlandsflug in die Phantomstadt Chongqing. Von ihren angeblich 31 Millionen Einwohnern leben „nur“ 11 Millionen im städtischen Siedlungsbereich. Den Rest des Stadtgebietes bilden ländliche Flächen mit über 20 Millionen Einwohnern. Im Zweiten Weltkrieg war Chongqing die Hauptstadt Nationalchinas und die von den Japanern meistbombardierte Stadt in China. Wir besuchen den Eling-Park, in dem seinerzeit Staatschef Chiang Kai-shek wohnte. Auffällig ist, wie sachlich über die Kuomintang, die damaligen Gegner von Maos Kommunisten, gesprochen wird. Im Fernsehen gibt es nicht nur Partisanenfilme über die Kämpfe zwischen Kommunisten und Kuomintang, sondern ebenso Filme über den Kampf der Chinesen gegen die japanischen Invasoren im Zweiten Weltkrieg.

Nach dem Besuch des Eling-Parks haben wir einen Fototermin vor der Volkskongreßhalle aus den fünfziger Jahren. Sie ist dem Himmelstempel in Peking nachempfunden, aber sehr viel größer. In ihren Seitenflügeln befinden sich heute Hotels. Gegenüber der Halle liegt der Sitz der Stadtverwaltung von Chongqing. Ein großes Haus, stumm und abweisend, mit dem Staatswappen über dem Eingangsportal. Davor hohe schwarze Eisengitter. In der Einfahrt steht ein dunkel uniformierter Posten in strammer Haltung. Die Partei scheint sich in ihre „verbotenen Städte“ und abweisenden Paläste zurückgezogen zu haben, wo die roten Mandarine unter sich bleiben und die Geschicke des Landes leiten. Dies entspricht aber wohl dem Normalzustand der chinesischen Gesellschaft, wie er in der Geschichte stets für das Land typisch war.

Draußen vor den Toren herrscht scheinbar reine Marktwirtschaft. Doch es gibt kein Privateigentum an Grund und Boden. Alleiniger Grundeigentümer ist der Staat. Damit bleibt aber ein wichtiges Element sozialistischen Wirtschaftens erhalten und gewährleistet in China auch künftig einen Sozialismus eigener Art.

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