© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Ein Deserteur und Dilettant
Die aberwitzige Karriere des amerikanischen Henkers John Chris Woods, der die in Nürnberg 1946 verurteilten NS-Kriegsverbrecher exekutierte
Werner Becker

Drei Tage nach der Hinrichtung der zehn deutschen Hauptkriegsverbrecher im Turnsaal des Gerichtsgefängnisses von Nürnberg, also am 19. Oktober 1946, gab der Henker, Master Sergeant John Chris Woods, der US-Zeitung The Mail ein Interview. Darin prahlte er: „Ich habe in 15 Jahren 347 Männer aufgehängt, und niemals lief das besser als in Nürnberg.“ Das freilich waren gleich drei glatte Lügen in einem Satz.

Zum ersten hatte Woods die Falltüren der beiden Galgen zu klein bemessen, so daß einige der Delinquenten mit den Gesichtern aufschlugen und blutige Kopfverletzungen davontrugen, die auf den Fotos von den Leichen deutlich zu sehen sind. Des weiteren besaßen die Stricke nicht die erforderliche Länge, weshalb aufgrund der zu geringen Fallhöhe kein Genickbruch eintrat, sondern die Todeskandidaten langsam stranguliert wurden – ein Prozeß, der bei Ribbentrop und Jodl immerhin eine geschlagene Viertelstunde dauerte.

Zum zweiten konnte Woods auch auf keine längere „Karriere“ als Henker zurückschauen. Und das wußten die Verantwortlichen in der US Army auch schon seit Frühherbst 1944. Damals suchte Lieutenant General John C. H. Lee, der Commander of the Services of Supply in Europe, einen Mann, der willens und fähig war, Todesurteile an straffällig gewordenen GIs durch Erhängen zu vollziehen.

Daraufhin meldete sich auch der 1911 geborene Private Second Class Woods von der 5. Engineer Special Brigade und gab an, in der Vergangenheit bereits Verurteilte in Texas und Oklahoma gehängt zu haben. Allerdings fand Lieutenant Colonel Allen C. Spencer vom Adjutant General’s Office sehr schnell heraus, daß in beiden Staaten schon seit Ewigkeiten nur noch der Elektrische Stuhl verwendet wurde. Dennoch freilich wurde der frisch entlarvte Lügner Woods zum offiziellen Henker der 3. US-Armee bestellt und am 29. September 1944 von Major General Milton A. Reckord, dem Theater Provost Marshal, auch gleich noch vom einfachen Private zum Master Sergeant befördert, womit er unglaubliche sechs Dienstgrade übersprang.

Zum dritten hatte Woods auch keine 347 Hinrichtungen vorzuweisen. Zwar reiste er ab Oktober 1944 durch Frankreich und beförderte dort an die dreißig US-Soldaten, zumeist Mörder und Vergewaltiger, am Galgen vom Leben zum Tode, aber darauf beschränkte sich seine Erfahrung vor dem Einsatz in Nürnberg dann auch schon. Zudem verliefen die Hinrichtungen in Frankreich ebenfalls ungewöhnlich blutig und grausam, weil Woods sein angebliches „Handwerk“ eben in keiner Weise beherrschte. Doch das störte offenkundig niemanden, weil die Exekutierten in den allermeisten Fällen Schwarze waren.

Woods Lügen wurden durch den renommierten US-Militärhistoriker und Ex-Army-Colonel French L. MacLean aufgedeckt, dessen elfjährige Recherchen zur Person von Woods allerdings noch sehr viel mehr Aufschlußreiches zutage förderten. Der Prahlhans war offensichtlich schon in jungen Jahren ein notorischer Querulant, da er bereits nach einem Jahr von der High School flog. Danach versuchte er sein Glück bei der US-Navy, in die er am 3. Dezember 1929 eintrat. Aber schon wenige Monate später desertierte er vom Flugzeugträger „Saratoga“ und kam vor ein Militärgericht.

Das verhängte indes keine Strafe, sondern verfügte nur Woods Entlassung. Grund hierfür war das Gutachten eines Militärpsychiaters, der dem Angeklagten deutliche Zeichen geistiger Degeneration bescheinigte und die Diagnose „Constitutional Psychopathic Inferiority“ stellte. Drei Jahre später versuchte Woods dann im Civilian Conservation Corps, dem US-Arbeitsdienst, unterzukommen. Doch auch hier gab es schnell Ärger: Wegen unerlaubter Abwesenheit und Arbeitsverweigerung wurde der spätere Henker von Nürnberg am 27. September 1933 in Unehren entlassen.

In der Folgezeit muß sich Woods einige technische Kenntnisse angeeignet haben, denn nach seinem Eintritt in die US Army am 30. August 1943 kam er bald zum 37. Engineer Combat Batallion. Mit dieser Einheit nahm er dann an der Landung in der Normandie teil, ohne allerdings auch nur eine einzige Auszeichnung zu bekommen.

Nach den Hinrichtungen von Nürnberg exekutierte Woods noch eine nicht genau bekannte Anzahl Deutscher, die in den Landsberg-Prozessen zum Tode verurteilt worden waren, so daß er am Ende auf etwa 60 bis 100 Hinrichtungen kam. Sein Verhalten in dieser Zeit war durch eine zunehmende Paranoia geprägt – er fühlte sich permanent bedroht und trug daher an jeder Hüfte eine 45er Automatikpistole. Außerdem entwickelte er sich laut Mac-Lean zu einem schweren Trinker. Möglicherweise wurde ihm dieser Hang zum Alkohol später zum Verhängnis, denn Woods starb bereits am 21. Juli 1950, im Alter von nur 39 Jahren, durch einen Stromschlag während der Reparatur einer Hochspannungsanlage.

Weil dies auf dem Eniwetok-Archipel geschah, wo die USA ein Atomtestprogramm unter Beteiligung deutscher Wissenschaftler durchführten, kam später das Gerücht auf, diese Experten hätten Woods ermordet und es wie einen Unfall aussehen lassen. Auch berichtet die Fama, der Master Sergeant hätte sich versehentlich selbst exekutiert, als er einen neuen Elektrischen Stuhl testete. Doch Woods, dem der Navy-Psychiater seinerzeit attestiert hatte, er zähle zum gänzlich „unbrauchbaren Menschenmaterial“, fiel wohl tatsächlich einem ganz banalen Arbeitsunfall zum Opfer. Und damit erfüllte sich auch die Prophezeiung von Julius Streicher an die Adresse seines Henkers nicht, die da lautete, eines Tages würden ihn die Bolschewisten ganz genauso aufhängen.

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