© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Kanzlerkandidat des deutschen Widerstands
Der Historiker Peter Hoffmann räumt die Legende von Carl Goerdelers „Antisemitismus“ ab
Ingo Janz

Gefragt danach, warum sich die Bundesrepublik mit der Militäropposition als dem Zentrum des Widerstands gegen Adolf Hitlers Herrschaft gedächtnispolitisch so schwertue, antwortete der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer, der in diesem Jahr die Berliner Gedenkrede zum „20. Juli“ hielt: Weil der Großteil ihrer Intellektuellen desinteressiert sei an der „Kontinuität des alten Deutschland“, an der „Möglichkeit eines deutschen Symbolorts, der irgendwas zu tun hat mit der Zeit vor dem Holocaust“ (Die Zeit vom 18. Juli).

Was Bohrer hier höflich mit „Desinteresse“ umschreibt, ein Phänomen, das er in seiner tiefgründigen Gedenk-rede dann aber unduldsamer als „Erinnerungslosigkeit“ geißelt, die den Bundesbürger von der ihm „völlig jenseits“ seines Bewußtseins liegenden jüngeren Vergangenheit abschneide (Die Welt vom 22. Juli), entlädt sich aggressiv in den ritualisierten publizistischen Vernichtungsfeldzügen gegen die Eliten des Deutschen Reiches. Pardon wird dabei nicht gegeben, wie an der 2010 gerittenen Historiker-Attacke auf das Auswärtige Amt während der NS-Zeit abzulesen ist (zuletzt JF 8/13). Nach dem Muster von Jan Philipp Reemtsmas Agitprop-Schau aus den neunziger Jahren über die Wehrmacht ging es auch bei der AA-Hatz darum, das Nürnberger Tribunal zu übertrumpfen und die Diplomaten der Wilhelmstraße als „verbrecherische Organisation“ zu stigmatisieren.

Die Ursprünge derartiger Bannflüche sind in der Endphase der Bonner Republik aufzuspüren. Damals schien es zwar noch so, als hätten exklusiv SED-Geschichtsideologen ein Patent darauf, „Nazis“ und die Funktionseliten der „Monopolbourgeoisie“ in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Diplomatie und Militär im „Täterkollektiv“ ununterscheidbar zusammenzupressen.

Aber 1980 hielt Christof Dipper, ein Schüler Hans Mommsens, in Trier einen Vortrag zum Thema „Der deutsche Widerstand und die Juden“, der an diesen prosekutorischen marxistischen Diskurs westdeutsch andockte. Der Text erschien 1983 in Geschichte und Gesellschaft und in den Yad Vashem Studies. Er fand von dort rasch den Weg ins Feuilleton. Mommsen, schwer traumatisiert durch das familiäre Elitenproblem eines Historiker-Vaters, der 1933 vom Demokraten zum NS-Mitläufer mutierte, setzte seinen beträchtlichen Einfluß in der Zunft daran, Dippers These vom „dissimilatorischen“, den Nürnberger Rassegesetzen benachbarten Antisemitismus durchzudrücken, dem primär nationalkonservative Exponenten wie Carl Friedrich Goerdeler (1884–1945), der „Kanzlerkandidat des Widerstands“, verhaftet gewesen seien.

Der gebürtige Westpreuße Goerdeler, deutschnationaler Bürgermeister in Königsberg bis 1930, Oberbürgermeister Leipzigs und Reichskommissar für Preisüberwachung bis 1936, war für Dipper und Mommsen sowie für viele ihrer Nachbeter das ideale Zielobjekt. Einerseits empfahl ihn seine Prominenz als hyperaktiver Netzwerker und Programmatiker des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944. Eine repräsentative Figur des Widerstands wie Goerdeler als Geistesverwandten des „völkischen Radikalrassismus“ zu diskreditieren, hieß, die konservative NS-Fronde als Ganzes nachhaltig in Verruf zu bringen, um sie aus dem bundesdeutschen Traditionsfundus auszumustern.

Andererseits assoziierte die historisch gebildete Öffentlichkeit Goerdeler bis 1980 fraglos mit seinem Rücktritt aus Protest gegen die Entfernung des Denkmals von Felix Mendelssohn-Bartholdy vor dem Leipziger Gewandhaus, der wenig Rückschlüsse über einen latenten Antisemitismus zuläßt. Nach Dippers Lesart verberge sich hinter diesem Akt jedoch nur ein vordergründiger Judenfreund, der sich anhand seiner auch die „Judenfrage“ erörternden Denkschriften als „Antisemit“ entlarven lasse.

Steckt aber selbst ein partiell couragierter Streiter gegen die NS-Kulturpolitik unrettbar im judenfeindlichen Sumpf der „politischen Rechten und der deutschen Oberschicht“ seit Kaisers Zeiten (Mommsen), ist nach den zu unterstellenden konvergenten Anschauungen seiner Mitstreiter, der Popitz, von Hassell, Stauffenberg, von Kleist, von der Schulenburg und von Tresckow gar nicht erst zu fragen.

Obwohl inzwischen weithin akzeptiertes, gesunkenes Kulturgut, stellt der Montrealer Emeritus Peter Hoffmann, Nestor der deutschen Widerstandsforschung, die Goerdeler-Deutung seiner Kollegen auf den Prüfstand. Dafür benötigt er 300 Seiten sowie einen umfangreichen Anmerkungsapparat. Davon ist das Gros wissenschaftlich unerheblich, weil bekannt; wenn es auch didaktisch heute vielleicht geboten ist, abermals akribisch den Werdegang Goerdelers bis zu seinem qualvollen Erhängungstod am 2. Februar 1945 nachzuzeichnen und dabei seine von Anbeginn unbeirrbare, in Wort und Tat bewiesene Ablehnung der NS-Judenpolitik zu dokumentieren.

Aber worauf es ankommt, die Widerlegung der „Antisemitismus“-Denunziation, die sich auf Goerdelers Denkschrift „Das Ziel“ von 1941 stützt, war auf sechzig Seiten unterzubringen, die als Hoffmanns eigentliche Leistung zu würdigen sind. Sie widerlegen textkritisch prägnant Punkt für Punkt Dippers Elaborat, das für Hoffmann nicht mehr ist als eine Collage „aus ungenügenden Forschungen, selektiver Verwendung der Quellen und unrichtigen Wiedergaben“ der Denkschrift.

Der zentrale Vorwurf, Goerdeler habe die deutschen Juden in ein Übersee-Reservat „ausbürgern“ wollen, ein verwerfliches Projekt gleich dem von Himmler und Heydrich noch bis 1940 präferierten „Madagaskar-Plan“, fällt in nichts zusammen. Denn seine Vorschläge, die mit damaligen zionistischen Ideen konform gingen und sich als humane Alternative abhoben von jener „informellen“ Praxis sozialer Ausgrenzung von Juden, wie sie Goerdeler auf seinen Reisen nach England und in die USA studiert hatte, wollten den Juden in Deutschland als Reichsangehörigen wie als Bürgern eines in Palästina, Kanada oder Südamerika einzurichtenden „Judenstaates“ eine Doppelstaatsbürgerschaft gewähren und sahen die Wiedereinsetzung in alle ihnen durch die NS-Rassegesetzgebung entzogenen Rechte vor.

Hoffmanns Befund, so lamentiert Magnus Brechtken, neuer Vize-Chef des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in der FAZ (Ausgabe vom 30. Juli), widerspreche dem Goerdeler „wissenschaftlich“ attestierten „dissimilatorischen Antisemitismus“ und sei daher „forschungsfern“. Gewiß – fern der politisierenden, klitternde Moralhuberei mit Forschung verwechselnden Produktion der Mommsen-Schule oder des IfZ. Aber um so näher an den Quellen, wie Günther Gillessen treffend auf Brechtken konterte (FAZ vom 14. August).

Doch selbst wenn das Etikett „dissimilatorisch“ im Duden-Sinn von „unähnlich machen“, auf Differenz beharren, passen würde, was wäre daran bei einem im Zeitalter der Nationalstaaten agierenden Politiker verwerflich? Überdies bestünde immer noch ein prinzipieller und nicht der von Dipper bis Brechtken suggerierte bloß graduelle Unterschied zwischen Goerdelers abgrenzendem und dem massenmörderischen „eliminatorischen“ Antisemitismus der Nationalsozialisten. Für die Juden Europas verlief hier von 1939 bis 1945 der Graben zwischen Leben und Tod, den allein die mit „Erinnerungslosigkeit“ (Bohrer) geschlagene bundesdeutsche Geschichtswissenschaft zu vernebeln vermag.

Peter Hoffmann: Carl Goerdeler gegen die Verfolgung der Juden. Böhlau Verlag, Köln 2013, gebunden, 364 Seiten, Abbildungen, 39,90 Euro

Foto: Carl Goerdeler (stehend) als Angeklagter beim Prozeß zum 20. Juli 1944 vor Freislers Volksgerichtshof: Eine in Wort und Tat bewiesene Ablehnung der NS-Judenpolitik

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