© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Grüße aus Tokio
Stadt der Gescheiterten
Albrecht Rothacher

Sanya ist in keinem Reiseführer von Tokio zu finden. Das Viertel, nördlich des berühmten Akasaka-Tempels am Sumidafluß gelegen, gilt als Schandfleck. 300 Jahre lang war es die Hinrichtungsstätte der früheren Hauptstadt Edo. 200.000 Verurteilte ließen dort ihr Leben. Dann wurden dorthin die Unterkasten des alten Japan verbannt und zur Meiji-Zeit die größten Bordelle Tokios eröffnet. Im Krieg fiel alles, wie die ganze Unterstadt Tokios, den Brandbomben der B-29 zum Opfer.

Vom Krieg verschont blieben hier die Barackenlager stehen. Sie wurden zum Sammelpunkt der Tagelöhner, Obdachlosen, Entwurzelten, Alkoholiker, Spieler, Kriminellen und anderer gescheiteter Existenzen. Oft entstammten sie respektablen Familien in der Provinz, bis Berufsprobleme, Schulden, die Spielsucht, der Suff oder eine abgesessene Gefängnisstrafe zwang, sich von ihrer Familie zu trennen, um ihnen die Schande des Scheiterns zu ersparen, und in die Anonymität zu ziehen.

Dort schlagen sie sich als Bodensatz der Gesellschaft mit Gelegenheitsarbeiten vor allem auf dem Bau durch, schlafen entweder in billigen schäbigen Sammelunterkünften, in Parks oder in Kartons unter Brücken und vertrinken oder verspielen am Folgetag ihren mageren Lohn. Die Sanya-Tagelöhner sind alt geworden, und mit schwindender Gesundheit schrumpfen ihre Löhne. Bauunternehmer nehmen heute lieber illegale Chinesen, Philippinos und Bangladeschis, die 20 Jahre alt sind, kräftig zupacken können und sich nicht beschweren.

Sanya ist leicht zu erreichen. Seine U-Bahnstation Minami-Senju liegt auf der Hibiya-Linie nur 20 Minuten von der Ginza, Tokios teuerster Luxusmeile, entfernt.

Ich durchlaufe die als sozialen Brennpunkt geltende Iroha-Galerie, zweifellos Tokios schäbigste Einkaufsstraße, und den Tamahime-Park, der eigentlich nur aus Asphaltfläche und etwas Gestrüpp am Rande besteht. Innerhalb von zwei Stunden zähle ich 20 Schlafstellen von Obdachlosen und 15 Betrunkene. Das Viertel ist arm, heruntergewirtschaftet, aber immer noch mit Mittelschichtläden durchsetzt. Es gibt auch Blumengeschäfte und Buchhandlungen. Selbst die Betrunkenen grüßen freundlich, wenn sie von mir Notiz nehmen. Kein Vergleich zu dem monokulturellen turko-arabischen Slum im Moabiter Beusselkiez, den ich in Deutschland am besten kenne, weil ich vor 30 Jahren, als es noch ein intaktes Arbeiterviertel war, dort gewohnt habe.

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