© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Das Kreuz mit dem Tuch
Türkei: Während die islamische AKP das erstmalige Tragen des Kopftuches im Parlament feiert, geraten die Säkularen ins Hintertreffen
Günther Deschner

Islamische Staaten und Parteien und ihr Kopftuchproblem! Sie alle berufen sich auf Lehren und Gebote des Propheten. Doch Mohammed muß sich – in diesem Punkt mindestens – mißverständlich ausgedrückt haben: In Saudi-Arabien oder im Iran ist das Kopftuch in der Öffentlichkeit obligatorisch – und wer sichergehen will, trägt es so gut wie überall. Im streng islamischen Kuwait, in dessen Parlament neuerdings auch Frauen sitzen, ist Kopftuch für die Parlamentarierinnen obligat. Erst in einem langen Prozeß haben zwei von ihnen das Recht erstritten, auch „oben ohne“ im Parlament zu erscheinen.

In der modernen Türkei hingegen, die 1923 von Mustafa Kemal Atatürk auf den Scherben des Osmanischen Reiches geschaffen worden war, galt das Kopftuch als Symbol des untergegangenen rückständigen Osmanischen Reiches und seiner Verquickung von Staat und Religion. Atatürk verbot die Polygamie, verschaffte den Frauen das Wahlrecht – und nahm ihnen dafür das Kopftuch ab.

Doch nach fast zwei Jahrzehnten zähen Ringens – seit der Wahl des heutigen türkischen Regierungschefs Recep T. Erdoğan zum Bürgermeister Istanbuls und zehn Jahre nach seinem Aufstieg zum Premier – hat der politische Islam im Land das Kopftuchverbot gekippt. Das letzte Tabu fiel vergangene Woche mit dem Einzug von vier AKP-Politikerinnen mit moslemischer Kopfbedeckung ins Parlamentsplenum.

Einen ähnlichen Vorfall hatte es im Frühjahr 1999 schon einmal gegeben: Damals war die islamistische Abgeordnete Merve Kavakçı zur Vereidigung mit Kopftuch im Plenum aufgetaucht. Lautstarke Proteste der Säkularisten zwangen sie zum Rückzug; anschließend verlor sie nicht nur ihr Parlamentsmandat, sondern auch die türkische Staatsbürgerschaft.

Doch inzwischen hat sich die politische Körpertemperatur der Türkischen Republik geändert: Drei Jahre nach dem Eklat waren bei vorgezogenen Wahlen die als islamistisch wahrgenommene Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und ihr Chef Erdoğan an die Regierungsmacht gekommen. Seine Kritiker werfen ihm ein Programm der „schleichenden Islamisierung der türkischen Politik“ vor.

Insofern findet die Erklärung der vier AKP-Politikerinnen, sie hätten das „nicht aus politischen, sondern aus rein persönlichen Gründen“ getan, wenig Glauben. Sie hätten in diesem Monat die Pilgerfahrt nach Mekka absolviert und seien während dieser Reise zu dem Entschluß gekommen, künftig gemäß ihrer religiösen Überzeugung Kopftuch zu tragen.

1999 hatte es noch einen Eklat im Hohen Haus gegeben, diesmal blieb es bei Protestreden der Säkularistenpartei CHP gegen die Aktion der vier Kopftuch-Parlamentarierinnen. Parlamentspräsident Cemil Çiçek (AKP) sprach von einem historischen Tag, andere kommentierten sogar, nun sei „eine Ära der Schande“ für die Türkei zu Ende gegangen.

Einige Tage zuvor hatte die oppositionelle kemalistische CHP zwar noch scharfe Kritik angekündigt. Vize-Parteichef Faruk Loğoğlu hatte erklärt, seine Partei werde „alles“ tun, um zu verhindern, daß weibliche AK-Abgeordnete mit Kopftuch an der Parlamentssitzung teilnehmen. „Wir werden das nicht zulassen. Wir werden das Parlament und die parlamentarischen Traditionen schützen.“ Das Parlament sei schließlich „nicht der Hinterhof der jeweils regierenden Partei“.

Die Republikanische Volkspartei CHP wurde 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk gegründet und ist somit die älteste Partei des Landes. Die größte Zustimmung findet sie bei säkularen und religiös liberal eingestellten Türken, besonders in den europäisch und städtisch geprägten Regionen. Als stärkste Kraft der Opposition gegen Erdogans islamisch-konservative AKP verfügt sie derzeit über 135 der 550 Sitze in der Nationalversammlung.

Doch als es zum Schwur kam, protestierte kaum eine Handvoll CHP-Parlamentarier. Die Parteispitze hatte sich anders entschieden. Am deutlichsten zeigte noch die Abgeordnete Dilek Akagün Yilmaz Flagge – in einem knallroten T-Shirt, mit dem Porträt Atatürks und der türkischen Flagge und mit kämpferisch erhobener Faust. „Die Mitglieder unserer Fraktion sind überzeugt“, hatte sie vorab Journalisten gesagt, „daß die AKP die Religion für politische Zwecke benutzt. Wir können nicht hinnehmen, daß sie den säkularen Charakter unseres Landes auslöscht.“

Foto: Als eine der wenigen aus den Reihen der säkularen CHP zeigt Dilek Akagün Yilmaz ihren Unmut über die Kopftuch-Kolleginnen (r.): Das Erbe Atatürks beiseite geschoben

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