© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Pankraz,
H. Lübbe und die Kulturpessimisten

Allmählich wird es riskant, sich als Zukunftsskeptiker und „Kulturpessimist“ zu outen. Von links wie von rechts gerät man unter Trommelfeuer. Daß alles letztlich nur besser werden wird, will man sich nicht ausreden lassen. Wie denn auch anders? Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Höchst bemerkenswert dazu ein Vortrag des ehrwürdigen Hermann Lübbe (86), den die Neue Zürcher Zeitung in ihrer vorigen Samstagsausgabe abgedruckt hat. Lübbe unternimmt dort eine Art Gratwanderung. Er benennt zwar durchaus reale Globalgefahren, so „die wachsenden demographischen Ungleichgewichte und die Erschöpfung naturaler Lebensressourcen“, hebt sie aber scharf ab von anderen kulturpessimistischen Befürchtungen, die bloß eingebildet seien und dadurch selber zu Gefahren würden.

Wie stehe es etwa mit der von dem großen Kulturpessimisten George Orwell in seiner Schreckensutopie „1984“ prognostizierten Globalisierung des Totalitarismus? „Stattdessen existieren orthodox totalitär verfaßte politische Systeme heute nur noch residual – wie zur Dauererinnerung an den allmächtigen ‘Großen Bruder’ in Nordkorea zum Beispiel. Orwell sah überdies das Verschwinden aller Kleinstaaten voraus, nämlich ihre Auflösung in drei Weltmächte von globaler Präsenz im Dauerkriegszustand. Stattdessen gehört die Pluralisierung der Staatenwelt zu den auffälligsten (…) Resultaten der politischen Evolution.“

Ganz ähnlich stehe es mit der von vielen Autoren vorausgesagten und ausführlich beklagten „Vermassung“ des modernen Lebens. „Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist“, schrieb beispielsweise Ortega y Gasset. Stimmt denn das? fragt Lübbe dagegen. Erzeuge nicht gerade das auffälligste Massenphänomen unserer Tage, der Sport mit seinen gewaltigen Arenen, einen genau gegenteiligen Effekt, nämlich daß wettbewerbliche Massenaktivitäten neuartige Eliten hervortreiben, Leistungseliten, die sozial in vieler Hinsicht hochprivilegiert sind und die Gesellschaft differenzieren?

Lübbes überraschendes Resümee lautet hier: „Gleichheit befreit (…) Sie bestätigt, was empirienah arbeitende Frühsoziologen wie der Brite Herbert Spencer zum Beispiel oder auch der Deutsche Georg Simmel schon im späten 19. Jahrhundert gesagt hatten: Die rechtspolitisch egalisierende Liquidation der Ständegesellschaft löst wie nie zuvor Prozesse sozialer und kultureller Differenzierung aus.“

Und noch ein drittes „kulturpessimistisches Klischee“ spießt der temperamentvolle Zürcher Emeritus auf: die angebliche Ersetzung jeglicher Religiösität durch einen aggressiven, gegenüber Glaubensfragen völlig echolosen Säkularismus. Dieser Vorgang sei, so Lübbe, ein exklusiv innereuropäisches Phänomen, das in anderen Weltgegenden keine Parallele finde. Dort spiele die Religion eine immer wichtigere Rolle und beeinflusse zunehmend die Politik, nicht nur in den islamischen Ländern, sondern auch in den USA.

Zitat Lübbe: „Ersichtlich verstanden die Amerikaner besser als die insoweit religionspolitisch aufklärungsinkompetent gewordenen Europäer, was man unternimmt, wenn man religiöse Kulturen in der Absicht ihrer Liquidation politisch angreift. Sie verstanden es besser, weil die die USA religionsrechtlich prägende strikte Trennung von Staat und Religion gerade nicht laizistisch, vielmehr religiös motiviert ist – was der Sache nach bestätigt, daß die verbleibende Präsenz der Religion im öffentlichen Leben auf modernisierungskompatiblen Voraussetzungen beruht.“

So viel also zum Wortlaut der Philippika gegen die „Kulturpessimisten“, die Lübbe in der Aula der Universität Zürich vortrug. Er schwärmte dabei geradezu von der „weltweit ungebrochenen Evolutionsdynamik“ und den vielen „Lebensvorzügen“, die sie biete. Sicherlich, es handle sich weitgehend um triviale, primär materialistische Vorzüge, aber dekultivierend wirke dieser Wohlstandsmaterialismus keinesfalls.

Warum das der Fall sein soll, wurde nicht gesagt. Stattdessen rühmte der Redner noch die „beispiellose Intensität moderner Vergangenheitsvergegenwärtigung“, welche gleichsam der endgültige Beweis für die Blüte moderner Lebensvorzüge sei. Pankraz mußte lachen. Vergangenheitsvergegenwärtigung? Wir haben ja längst ein anderes Wort für das gemeinte Mädchen: „Vergangenheitsbewältigung“. Die Vergangenheit wird heute nicht mehr vergegenwärtigt, sondern bewältigt, überwältigt, vergewaltigt, und das keineswegs nur in den allzu bekannten Kontexten.

Und was der Vergangenheit passiert, das passiert auch der Gegenwart und der Zukunft. Alles wird nur noch nach materiellen (oft bloß eingebildeten) Augenblicksbedürfnissen traktiert. Die „neuen Eliten“, die die Massengesellschaft angeblich hervorbringt, sind ganz von deren Geist, das heißt sie sind geistlos und berühmen sich dessen sogar noch. Für das „Unverfügbare“, das Hermann Lübbe doch so teuer ist, haben sie – zumindest in Europa – höchstens noch Hohn und Spott übrig.

Pankraz fragt sich, ob Lübbe diesen neuen Massen-Eliten wirklich und allen Ernstes zutraut, sie könnten den von ihm eingangs genannten Globalgefahren, den demographischen Ungleichgewichten und der Erschöpfung naturaler Lebensressourcen, erfolgreich Paroli bieten. Viel wahrscheinlicher ist doch, daß es bei der „Bewältigung“ dieser Gefahren zu einem verbissenen, gnadenlosen Hauen und Stechen kommen wird und daß am Ende jene siegreichen Ethnien, die noch an das Unverfügbare glauben, gänzlich ohne naturale Lebensressourcen dastehen werden.

Angesichts solcher Realperspektiven sollte man rechts wie links ein Einsehen haben und den wenigen verstockten Kulturkritikern, die es gibt, wenigstens eine kleine Spielwiese zubilligen. Sie könnten dann unter anderem darauf hinweisen, daß die von Lübbe bewunderte Evolutionsdynamik niemals linear wirkt, sondern die tollsten Kapriolen schlägt, manchmal sogar Wendungen um volle 180 Grad.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen