© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Totenmesse mit Opern-Stars
Gipfelwerk der Kirchenmusik: Giuseppe Verdis „Messa da Requiem" in einer Neueinspielung unter der Leitung von Daniel Barenboim / Sänger-Ensemble reicht nicht an Vorgänger heran
Markus Brandstetter

Der Pianist und Dirigent Hans von Bülow war wegen seiner spitzen Zunge und seiner galligen Zeitungsartikel gefürchtet. So berichtete er am 21. Mai 1874, einen Tag vor der Uraufführung von Giuseppe Verdis „Requiem“, mit gewohnter Bosheit aus Mailand: „Das zweite Ereignis wird die morgen vormittags in der hierfür theatralisch hergerichteten Kirche San Marco vom Autor, Senator Giuseppe Verdi, ausnahmsweise selbst geleitete Monstre-Aufführung seines Requiem sein, mit welchem der allgewaltige Verderber des italienischen Kunstgeschmacks vermutlich den letzten, seinem Ehrgeiz unbequemen Rest von Rossinis Unsterblichkeit hinwegzuräumen hofft. Seine neueste Oper im Kirchengewande wird zunächst drei Abende hindurch in der Scala den Händen des weltlichen Enthusiasmus überantwortet werden, worauf dann unverzüglich in Begleitung der von ihm eigens dressierten Solosänger die Wanderung nach Paris zur Krönung des Werkes angetreten werden soll.“

Bülows Zerrbild ist typisch für die zeitgenössische Beurteilung von Verdis „Requiem“ und wirkt bis heute nach. Sie mag erklären helfen, warum ein Werk, das heute zu den Gipfelwerken der Kirchenmusik zählt, so lange brauchte, bis es sich im Repertoire behaupten konnte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat Verdis einzige Messe die Podien der Welt endgültig erobert.

Auch wenn Bülows negative Einschätzung, für die er sich – so ehrlich war er dann schon – später bei Verdi brieflich entschuldigte, längst Geschichte ist, hat sie doch lange nachgewirkt: Das Verdikt von der Oper im Kirchengewand ist heute noch zu hören, so auch im Artikel zu „Requiem“ in der zweiten, neu bearbeiteten Auflage der „Musik in Geschichte und Gegenwart“, dem Standardlexikon der deutschen Musikwissenschaftler. Dabei hatte der Komponist selbst in einem Schreiben an seinen Verleger Ricordi eine klare Trennlinie zwischen Kirche und Bühne gezogen: „Sie verstehen gewiß besser als ich, daß diese Messe nicht wie eine Oper gesungen werden darf und daß Phrasierungen und Dynamik, wie sie auf dem Theater angebracht sind, mir hier nicht zusagen.“

Das Requiem ist die Totenmesse der katholischen Liturgie und einer ihrer ältesten Teile überhaupt. Ihren Namen hat die Messe von den Anfangsworten des Introitus, wo es heißt: Requiem aeternam dona eis, Domine (Herr, gib ihnen die ewige Ruhe).

Das berühmteste Requiem der Musikgeschichte ist dasjenige von Mozart aus dem Todesjahr 1791, seine letzte Komposition, die er nicht mehr vollenden konnte. Aber bereits vor Mozart gab es zahllose Vertonungen der Totenmesse, die im 15. Jahrhundert beginnen, im Zuge der Gegenreformation mehr an der Zahl und vielgestaltiger werden und bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein fast alle Komponisten im katholischen Europa beschäftigen. Requien komponierten Johann Christian Bach (einer der Söhne Johann Sebastians) und Michael Haydn (der Bruder Josephs) ebenso wie Jean Gilles und François-Joseph Gossec in Frankreich, der bereits Berlioz’ Monumentaleffekte aus dem 19. Jahrhundert vorwegnimmt.

Das 19. Jahrhundert bringt mit der Requiemvertonung Luigi Cherubinis einen ersten Höhepunkt der Gattung, der, obwohl zum Gedenken an Ludwig XVI. entstanden, selbst den überzeugten Republikaner Beethoven so sehr begeisterte, daß dieser sagte: sollte er je ein Requiem komponieren, dann würde es wie das von Cherubini klingen.

Zwischen 1790 und 1900, in einem Zeitalter zunehmender Säkularisierung also, entstanden mehr und bessere Vertonungen dieses im Grunde schauerlichen Textes als jemals zuvor und danach. Donizetti, Berlioz und Camille Saint-Saëns, besser bekannt als Schöpfer des „Karnevals der Tiere“, komponierten den Text ebenso wie Gaetano Donizetti, Franz Liszt, der Operetten-Komponist Franz von Suppé und Antonin Dvorak.

Vollständig aus diesem Kontext fällt das berühmte „Deutsche Requiem“ des Protestanten Johannes Brahms, der nicht den offiziell festgelegten lateinischen Text der römischen Liturgie vertonte, sondern von ihm selbst ausgewählte Teile der Luther-Bibel.

Nach dem Werk Mozarts dürfte Verdis Komposition heute die bekannteste und beliebteste sein. Entstanden, um des Todes des Schriftstellers und Dichters Alessandro Manzoni zu gedenken, existieren mehr als 30 Aufnahmen mit vielen der besten Sängerinnen und Sänger seit dem Zweiten Weltkrieg. Die großen Dirigenten, die sich dem Werk gewidmet haben, reichen von Toscanini und Fritz Reiner über Giulini, Solti, Karajan, Abbado und Bernstein bis zu John Eliot Gardiner und ganz aktuell Gustavo Dudamel.

Nun hat die Decca eine Aufnahme mit dem Orchester und Chor der Mailänder Scala unter der Leitung von Daniel Barenboim herausgebracht. Wie das heute so üblich ist, wurde darum ein mächtiger Medienhype entfacht, Sänger, Dirigent, Chor und Orchester von der Marketing-Abteilung schon im voraus zu Spitzenkräften erklärt, die ganze Aufführung im Halbdunkel der leeren Mailänder Scala für die Ewigkeit abgefilmt und auf Blu-ray gepreßt.

Man kann ruhig sagen: Das Gelbe vom Ei ist es nicht geworden. Der inzwischen siebzigjährige Barenboim dirigiert so, wie er immer dirigiert: akkurat, ernst und ein wenig langweilig. Im „Tuba Mirum“, wo ja nun die Posaunen des Jüngsten Gerichts erklingen sollten, gelingt es ihm auch nicht annähernd, die Spannung und die ungeheure Steigerung im Bläser-Crescendo, die Leute wie Giulini, Solti und Bernstein aus dem Orchester herausholen, hervorzubringen. Das liegt auch am betulichen Scala-Orchester, das von den Spitzenorchestern der Welt nach wie vor weit entfernt ist, und dessen Blechbläser die Staccato-Sechzehntel im „Dies Irae“ nicht sauber hinkriegen.

Die Sopranistin Anja Harteros, die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča, der Tenor Jonas Kaufmann und der Bassist René Pape gehören sicher zu den besten Sängern unserer Zeit, aber mit ihren Vorgängern aus der Vergangenheit können sie sich nicht immer vergleichen. Jonas Kaufmann ist in Wahrheit ein jugendlicher Heldentenor („Lohengrin“, „Parsifal“) ohne allzu große Höhe und Agilität und bei mittlerem Volumen, der jedoch, wie heute üblich, alles singt, also auch italienische Spinto-Partien, die für einen di Stefano oder Pavarotti geeignet waren, es für ihn aber nur bedingt sind.

Entsprechendes gilt für die Kammersängerin Anja Harteros, die sich auch quer durch das Repertoire singt und von lyrisch bis dramatisch alles zu beherrschen scheint, was jedoch auf die Stimme geht und ignoriert, daß ihr eigentliches Talent im genuin lyrischen Fach und im Liedgesang liegt

Wer also die Solti-Aufnahme mit Joan Sutherland und dem jungen Pavarotti im Plattenschrank hat, die alte Giulini-Einspielung mit Elisabeth Schwarzkopf und Nicolai Gedda oder auch die mit Bernstein, Plácido Domingo und Martina Arroyo, der muß sich diese Neuerscheinung nicht unbedingt anschaffen.

Verdi Requiem, Doppel-CD, Decca (Universal), 2013 www.deccaclassics.com

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