© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Wenn man gelegentlich hört, daß die Unbildung der Jungen gar keine sei, weil die eben andere Dinge wüßten als die Alten, dann muß doch darauf hingewiesen werden, daß Bildung nicht darin besteht, irgend etwas zu wissen.

Ein Radio-Feature, das das organisierte Verbrechen in Solingen und Umgebung behandelt, ein Zeitungsartikel über Probleme mit einem Unterwelt-Clan in Bremen, die Abstimmung des Europäischen Parlaments zur Sklaverei in der Gemeinschaft – das alles in einer Woche, ohne irgend-einen Hinweis auf die Ursache des einen wie des zweiten wie des dritten: die Entstehung ethnisch geprägter Subkulturen, die archaische Verhaltensmuster einschleppen können aufgrund einer Politik der offenen Grenzen, die sich halten können aufgrund eines anarchoiden Staatsverständnisses, und die man nicht einmal als solche bezeichnen darf aufgrund eines albernen Relativismus und der Regeln politischer Korrektheit.

„Es gibt Zeiten, in welchen die Staatsverfassung eines Volkes weder bestehen kann, wie sie ist, noch auch so umgestaltet werden kann, daß sie zu bestehen vermag. Das sind die Zeiten, wo das Alte mit dem Neuen, der bisherige Zustand der bürgerlichen Gesellschaft mit einem andern noch unentschiedenen und von der Entscheidung weit entfernten im Kampfe liegt. Wehe dem Fürsten, wehe dem Staatsmann, dessen Leben in solche Zeiten fällt! Was er auch tut, er tut es entweder zu spät oder zu früh, er sieht vielleicht das Ziel, aber er kann es nicht erreichen.“ (Joseph von Radowitz, preußischer General, 1849, Eintrag in das Parlamentsalbum)

Der Skandal um die Abhörpraxis der NSA erhält eine hübsche Pointe durch die knapp einhundert Jahre alte Propaganda der Amerikaner für die Abschaffung jeder Geheimdiplomatie. Sie sind dem Ziel natürlich nicht dadurch nahe gekommen, daß im neuen Säkulum alle alles offen auf den Tisch legen, aber doch dadurch, daß sie mit der ihnen eigenen Unbekümmertheit die modernste Technik anwenden, um wenigstens die Geheimnisse der anderen zu fassen zu kriegen.

Beim Wiederlesen in Gramscis „Gefängnisheften“ fällt die Bemerkung über die denkbare Entwicklung einer Gesellschaft auf, in der die herrschende die beherrschte Klasse nicht mehr gewaltsam unterdrückt, sondern das Mittel der Überredung genügt. Dann, so Gramsci weiter, werde die Heuchelei „totalitär“, da sie eben nicht mehr nur ein Mittel der Herrschenden sei, die Tugenden predige, die sie – eine stete Praxis jeder Elite – selbst nicht befolge, sondern auch von den Beherrschten gepflegt werde, die dadurch ihre Stellung absichern. Dem könnten bis auf weiteres nur einzelne entgegentreten, die sich die notwendige „Selbstzucht“ auferlegen. Ein Gedanke von bemerkenswerter Hellsicht.

Es besteht gewiß ein Zusammenhang zwischen steigender Perfektion maschineller Abläufe und wachsender Wurstigkeit des Menschen.

Wenn ins Dorf die Korbflechter, Kesselflicker, Scherenschleifer kamen, riefen die Mütter uns Kinder ins Haus und behielten uns drinnen, bis die Wagen weitergezogen waren.

Zum Abgang Gaschke in Kiel: Der maulend-moralisierende Ton der Dame beim Rückzug erinnert stark an Heide Simonis, was die Frage nahelegt, ob da Milieu, Geschlecht oder Typ eine Rolle spielen. Vielleicht geht es aber auch einfach darum, daß das Sprichwort wieder unbeherzigt blieb: „Wenn du die Hitze nicht aushältst, geh aus der Küche.“

Die Büste, die man in Budapest für Nikolaus von Horthy, weiland Reichsverweser der ungarischen Krone und Bündnispartner Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, aufgestellt hat, löste die erwartbaren Proteste aus, obwohl Horthy sicher kein „Faschist“ war, nur ein Reaktionär und Patriot. Umgekehrt hat die Welt unlängst wohlwollend an den griechischen General Ioannis Metaxas erinnert, wie Horthy Diktator in der Zwischenkriegszeit, und ganz gewiß ein „Faschist“, allerdings einer, der klug genug war, auf die britische Seite zu treten und konsequenterweise das zu sein, was jeder Faschist in erster Linie ist: ein Nationalist.

Ein großer Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Flüchtlingsstroms vor dem „Asylkompromiß“ von 1993 und dem, der heute in unser Land kommt, ist, daß es damals noch so etwas wie eine politische Debatte über den Vorgang gab. Heute wird allseits beschwiegen, beschwichtigt und immer wieder so getan, als ob es nur um humanitäre Aspekte gehe.Damals erhob sich wenigstens noch die eine oder andere Stimme, die vor den Folgen warnte oder die Sache auf den Punkt brachte, daß nämlich die Verfassung mitsamt den darin garantierten Rechten einem tatsächlich existierenden Staat zugehöre – und nicht der Insel der Seligen.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 22. November in der JF-Ausgabe 48/13.

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