© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Ein beschämtes Publikum
Übergriffe auf jüdische Einrichtungen vor 75 Jahren waren kein Pogrom des Volkes, sondern NS-Terror
Konrad Löw

Vor 75 Jahren geschah ein schlimmer Kulturbruch in Deutschland. Überfallartig wurden die meisten Synagogen, jüdischen Gebetshäuser und Geschäfte zerstört, rund 30.000 jüdische Männer in Konzentrationslager verschleppt. Hunderte von ihnen fanden den Tod. Darüber sollte jeder Deutsche Bescheid wissen, und fast jeder dürfte darüber einigermaßen informiert sein.

Rechtzeitig zu diesem denkwürdigen Jahrestag schrieb Raphael Gross, Leiter des Leo-Baeck-Instituts in London, Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main und des Fritz-Bauer-Instituts, ein Buch, betitelt „November 1938“, in dem das eben Skizzierte ausführlich geschildert wird. Im Prolog heißt es: „Niemals zuvor oder danach standen Hunderttausende Jüdinnen und Juden einer derart aufgehetzten Bevölkerung gegenüber und mußten Schläge und Erniedrigung, Totschlag und Mord … erleiden.“ Ferner: „Die vom NS-Regime organisierten Gewalttätigkeiten geschahen unter Beteiligung von etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung.“

Die meisten Leser werden diese Behauptungen als traurige Tatsachen einfach hinnehmen. Doch interessant wäre es zu wissen, woher Gross seine Informationen bezieht, da er damals doch noch nicht gelebt hat. Statt eines Nachweises wird das Zitierte mit anderen Worten mehrmals wiederholt: „Was in der ‘Reichskristallnacht’ zutage trat, war das ungeheure Potential an Haß und Verachtung, mit dem das NS-Regime und große Teile der Bevölkerung in aller Öffentlichkeit dem angeblichen Feind im Innern, den Juden, den Krieg erklärt hatten.“

Ein Augenzeuge kommt zu Wort. Er schildert anschaulich den Pogrom in Nordhausen. Doch von der Bevölkerung allgemein ist da gar nicht die Rede, vielmehr: „Inzwischen holten die betrunkenen SA- und SS-Männer alle Juden aus ihren Wohnungen …“ Und wie verhielten sich die gewöhnlichen Bürger kurz nach Mitternacht? Eine nichtjüdische Einwohnerin von Bebra wird ausführlich zitiert, obwohl sie ihre Wohnung nicht verließ und vom Fenster aus nichts wahrnehmen konnte außer vielen Menschen. Das ist Gross’ Beweismaterial.

Unter der Überschrift „Reaktionen der Kirchen in Deutschland“ stellt Gross einleitend nochmals die Frage: „Wie hat die nichtjüdische Mehrheit der deutschen Bevölkerung auf die Pogrome reagiert?“ Seine Antwort: „Da der NS-Staat keine offene Gesellschaft war, ist die Quellenlage entsprechend schwierig. Eine der vielen überlieferten Quellen sind die Stimmungsberichte, die vom Sicherheitsdienst der NSDAP für die NS-Führung gesammelt wurden. Diese Berichte sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren … “

Wer wollte ihm insofern widersprechen? Aber wir haben zahlreiche glaubwürdige Aufzeichnungen anderer Provenienz, so aus den Reihen des „anderen Deutschland“, von ausländischen Journalisten wie Diplomaten und insbesondere von betroffenen Juden. Wir haben Berichte aus allen größeren Städten des Reiches. Es lohnt sich, alle diese Aufzeichnungen zu lesen. Dann entsteht ein anderes Bild. Beschränken wir uns auf nur wenige Beobachtungen aus der Reichshauptstadt, aus der „Hauptstadt der Bewegung“ und aus der „Stadt der Reichsparteitage“.

l Gerhard Löwenthal, Berlin: „Ich war, als der Tumult auf der Straße begann, sofort hinuntergelaufen, um zu sehen, was los sei. Da wir noch keinen Judenstern tragen mußten, kam mir gar nicht die Idee, daß ich mich in große Gefahr begab. Das wurde mir erst klar, als ich beim Anblick meiner brennenden Synagoge in Tränen ausbrach. Obwohl viele Menschen stumm und betroffen, einig offenbar in ohnmächtiger Wut, die Feuersbrunst beobachteten, war es doch nicht ausgeschlossen, daß mich fanatische Nazis erwischt und an Ort und Stelle entsprechend ‘behandelt’ hätten.“

l Hans-Joachim Schoeps, Berlin: „Von einer brennenden Synagoge fuhr ich zur anderen, und überall sah ich nur schweigende Menschen stehen, die in die Flammen starrten. Manche hatten Tränen in den Augen, manche die Fäuste in der Tasche geballt. Das war das wirkliche Volk von Berlin. Ein alter Mann murmelte: ‘Gotteshäuser anzünden, das wird sich rächen, das wird ein schlimmes Ende nehmen.’“

l Charlotte Knobloch, München: „Als ich meine Augen endlich von der Zerstörung abwende und mich umdrehe, schaue ich den Menschen in die Gesichter, die ebenfalls die Verheerung betrachten. Ihre Mienen sind ernst, sie wirken traurig und bedrückt. Von der Zerstörungslust, die ich in der vergangenen Nacht gesehen hatte, ist bei ihnen nichts zu spüren. Vielleicht, so versuche ich mich zu trösten, waren es doch nur einige wenige gewesen, die mitgetan hatten.“

l Rudolf Bing, früher Vorstand der Nürnberger Anwaltskammer, Nürnberg: „Als am Morgen dieser Unheilsnacht die nicht als Polizei oder SA-Mannschaft beteiligte Bevölkerung erwachte und das Zerstörungswerk erblickte, trat eine Folge ein, die die Urheber nicht erwartet hatten. Unverkennbar bemächtigte sich ein tiefes Gefühl der Depression und der Beschämung des Publikums. Zum ersten Male wagten sich Kreise der übrigen Bevölkerung heraus, um uns ihr Mitgefühl zu zeigen. ‘Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein’, bekam man zu hören.“

Aus der engeren Heimat des Autors soll ein Nichtjude zu Worte kommen, Ulrich von Hassell, der die Verstrickung in Stauffenbergs Hitler-Attentat mit dem Leben bezahlen mußte.

„Ebenhausen, 25. November 1938. (...) Es gibt wohl nichts Bittereres im Leben, als ausländische Angriffe auf das eigene Volk als berechtigt ansehen zu müssen. Übrigens unterscheidet man draußen ganz richtig zwischen dem wirklichen Volk und der Schicht, die diese Sache zu verantworten hat. (...) Ein Trost ist, daß diesmal die Entrüstung über das Geschehene nicht nur die überwältigende Mehrheit der Gebildeten erfaßt hat, sondern ganz weite Kreise des Volkes.“

„Ebenhausen, 27. November 1938. Bruckmann und Alex v. Müllers zum Tee hier. Das Entsetzen über die schamlose Judenverfolgung ist bei ihnen so groß wie bei allen anständigen Menschen. Durch und durch treue Nationalsozialisten, die in Dachau wohnen und bisher ‘durchgehalten’ haben, sind nach Erzählungen Bs jetzt restlos erledigt.“

Diese Erschütterung hat sich herumgesprochen und ist offenbar auch der politischen Führung zu Ohren gekommen. Die folgenden Sätze tragen Goebbels Unterschrift: „Die Masse der Bevölkerung, die nicht in der Kampfzeit und auch späterhin nationalsozialistische Zeitungen regelmäßig gelesen hat, hat damit nicht die Aufklärung erfahren, die für die Nationalsozialisten im Kampf ohne weiteres gegeben war. Dieses Versäumnis ist daher nachzuholen.“

Warum kommt Gross mit keiner Silbe auf derlei Texte zu sprechen? Kennt er sie nicht? Das Gegenteil ist nachweisbar richtig, denn er zitiert mehrmals Victor Klemperer aus Dresden, den angesehenen jüdischen Chronisten, der ab September 1941 den Judenstern tragen mußte. Doch was Gross nicht zitiert, das sind jene Sätze Klemperers, die seine täglichen Erfahrungen auf den Straßen und in den Betrieben schildern, und Sätze, die diese Erfahrungen bündeln, so: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.“

 

Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist Autor des Werkes „Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen“ (Olzog Verlag, München 2010)

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