© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Die Macht der Ordnung gegen das Rabaukentum
Der Berliner Polizeioberleutnant Wilhelm Krützfeld rettet 1938 couragiert die Neue Synagoge Berlin
Bernd Rademacher

Zehn Minuten vor Mitternacht am 9. November erreichte die Leitstellen der Staatspolizei ein Fernschreiben von Gestapo-Chef Heinrich Müller: Es betraf „Maßnahmen gegen die Juden in Deutschland und insbesondere gegen deren Synagogen“. Eineinhalb Stunden später wurde der Inhalt durch ein Blitztelegramm von Reinhard Heydrich nochmals bestätigt und konkretisiert.

Auf diesen Wink haben die SA-Männer gewartet! Jetzt singen sie lauthals „Wetzt die langen Messer auf dem Bürgersteig ...“ In Uniform oder in „Räuberzivil“ sind sie auf der Straße, um sich auszutoben: Sie demolieren jüdische Geschäfte, zerren Juden aus ihren Wohnungen und legen Feuer an Synagogen. Der Pogrom, für das der Berliner Volksmund später in entlarvender Anspielung auf die staatlich gelenkte „Spontaneität“ den ironischen Begriff „Reichskristallnacht“ erfindet, ist im vollen Gange. Von Polizei und Feuerwehr ist wenig zu sehen, sie sind zur Zurückhaltung vergattert.

Auch im Bezirk Berlin-Mitte randalieren Nationalsozialisten. Ihr Ziel: die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße 29. Im Jahr 1866 wurde das große jüdische Gotteshaus mit über dreitausend Plätzen eingeweiht. In dem Gebäude im historisierend maurischen Stil beten Berlins liberale Juden. Ein begehrtes Ziel für die nationalsozialistischen Marodeure. Doch dann erwartet sie eine Überraschung: Der Polizeioberleutnant Wilhelm Krützfeld vom Polizeirevier 16 am Hackeschen Markt stellt sich der Horde mit gezogener Dienstwaffe entgegen.

Krützfeld, damals bereits 58 Jahre alt, wurde in Seedorf im schleswig-holsteinischen Kreis Segeberg geboren. Nach seinem Militärdienst bei der Spandauer Garde wurde er Polizist. Nach Stationen im Preußischen Landespolizeiamt und im Berliner Polizeipräsidium hatte er erst im Jahr 1938 das Revier am Hackeschen Markt übernommen. Er drängt die Randalierer zurück und weist die zuschauenden Feuerwehrmänner an, das bereits in der Synagoge gelegte Feuer augenblicklich zu löschen.

Neben seiner Parabellum-Pistole hat er noch ein überzeugendes Argument: Er beruft sich auf eine Order Kaiser Wilhelms I., der die Synagoge unter Denkmalschutz gestellt hatte. Die Feuerwehr löscht ohne Widerspruch den Brand im Trausaal. Partei und SA-Führung sind außer sich. Am nächsten Tag muß Krützfeld beim Polizeipräsidenten, dem Goebbels-Intimus Wolf-Heinrich Graf von Helldorf antreten. Die Fahrkarte in die berüchtigte „Schutzhaft“? Doch überraschend wird er nur verbal gemaßregelt und bleibt im Polizeidienst.

Die Synagoge überstand den Pogrom letztlich unzerstört. Bis 1940 konnten noch weitere Gottesdienste in ihr stattfinden. Im selben Jahr wurde Krützfeld versetzt. Drei Jahre später ging er auf eigenen Wunsch „aus gesundheitlichen Gründen“ in den Ruhestand. Im selben Jahr wurde die Synagoge durch britische Bomber beschädigt, zur Ruine wurde das Gebäude dann durch die Entnahme von Baumaterial nach dem Krieg in Berlin-Mitte. Dort kehrte Krützfeld noch einmal in den Polizeidienst zurück und unterstützte den Wiederaufbau der Ordnungsstrukturen im damaligen Sowjet-Sektor. 1953 starb er in Berlin.

Das Land Schleswig-Holstein würdigte seine Zivilcourage, indem es 1993 am 55. Jahrestag der Ereignisse die Landespolizeischule in Malente-Kiebitzhörn in „Landespolizeischule Wilhelm Krützfeld“ umbenannte. 55 Jahre nach Krützfelds Tod stiftete seine Heimatgemeinde Seedorf einen Gedenkstein. Neben der Neuen Synagoge in Berlin erinnert eine Gedenktafel an sein beherztes Eingreifen.

Krützfeld war weder Verfolgter des Regimes noch politischer Aktivist. Er war durch und durch ein preußischer Beamter, der sich dem Staat als Ordnungssystem verbunden und verpflichtet fühlte und entschlossen war, diese Ordnung gegen ideologisches Rabaukentum zu verteidigen.

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