© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Debatte über die Unfehlbarkeit des Marktes
Grundsätzliche Irrtümer
Michael Wiesberg

Bis zum Ausbruch der Finanzkrise vor fünf Jahren glaubten viele, daß Märkte und ihre Mechanismen aus sich selbst heraus „Gerechtigkeit und Gemeinwohl“ produzieren. Eine Diskussion über die „angemessene Rolle von Märkten“ sei dennoch ausgeblieben, klagte der US-Philosoph Michael Sandel kürzlich in der Wirtschaftswoche. Überlegungen des Währungsfonds (IWF), die Staatskassen mittels Teilenteignung von Sparern und Hausbesitzern zu füllen, um das Kasino aus Zinsmanipulation, Kredit­exzessen und Geldwerterosion weiter garantieren zu können, deuten eher auf eine neue Eskalationsstufe (JF 46/13).

Sandel, dessen Denken um den Begriff der Gerechtigkeit kreist, geht es indes vornehmlich um die Frage, was für Konsequenzen eine Philosophie entfaltet, in der alles zum Verkauf stehe. Das Marktdenken habe „unser gesamtes Leben überformt: Familie, Beziehungen, Gesundheit, Politik, Recht – alles“. Der grundsätzliche Irrtum sei die Vorstellung, daß Märkte, wenn man sie gewähren lasse, auch Gerechtigkeit und Gemeinwohl „produzierten“. Hierin liege der verführerische Reiz dieses Denkens: es scheine uns „neutrale Lösungen“ für alle Fragen des Zusammenlebens anzubieten, ohne daß wir komplizierte Debatten über die Grundlagen des Zusammenlebens führen müßten.

Der Harvard-Professor argumentiert hier in kommunitaristischer Weise, indem er darauf verweist, daß jeder Mensch sozialisiert und von Gruppen, Traditionen und Gemeinschaften geprägt ist. Er steht damit im Widerspruch zur libertären Kritik, der er vorwirft, partikulare und soziale Werte zu ignorieren und auf einem abstrakten Freiheitsbegriff aufzubauen. Die höchste Priorität innerhalb der Gesellschaft sollte aber nicht die Freiheit des Menschen haben, sondern der Nutzen bzw. das „Gute“ des Menschen und der Gemeinschaft, in der er lebt.

Aus europäischer Perspektive lesen sich Sandels Ausführungen wie ein Plädoyer für die deutsche soziale Marktwirtschaft. Dieses Modell hat bis zu seiner Demontage durch hemmungslose Überdehnung und Aushöhlung gezeigt, daß sich Kapitalismus und soziale Verantwortung nicht ausschließen müssen und sogar eine erfolgreiche Synthese eingehen können. Der rheinische Kapitalismus mit seiner längst ausgeschlachteten „Deutschland AG“ war die bis heute erfolgreichste Antwort auf sein angelsächsisches Pendant, in dem die Gier nach kurzfristigem Profit systemimmanent ist. Allerdings funktioniert das Solidaritätsprinzip, auf dem die soziale Marktwirtschaft basiert, nur im nationalstaatlichen Rahmen. Der über die EU erzwungene Versuch, dieses Prinzip zu europäisieren, muß letztendlich zur Zerstörung des Sozialstaates führen.

Es bedarf nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, daß „die Menschen“ dann dem ausgeliefert sind, was Sandel unheilvoll „Vernutzung durch die Gesetze des Marktes“ nennt.

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