© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Thalers Streifzüge

Wer ergründen will, warum der deutsche Schlager – aller Häme zum Trotz – so erfolgreich ist, muß sich am besten in ein Konzert verirren. Gesagt, getan, ich verirre mich. Nicht zu Helene Fischer oder Andrea Berg, den beiden derzeit angesagtesten Aushängeschildern des Genres, nein, ich gebe es mir richtig. Mein Weg führt mich zu Semino Rossi, dem argentinischen Schnulzensänger des romantischen Schlagers. Und ich bin nicht allein. Die etwa sechzigjährige Graublonde mit der breiten, leuchtend blauen Strähne im Haar und ihrer Mutter, achtzigplus, im Arm wollen ebenso dorthin wie der gegelte Schwarzgetönte, Typ schwuler Friseur, mit seiner Mutti. Das kann ja heiter werden.

Überraschung, Überraschung: Semino Rossi kann fabelhaft singen, er ist in seinen Ansagen unterhaltsam, und für ein Duett mit ihm kommt Andrea Berg auf die Bühne. Alle Vorurteile kippen, die Stimmung im Saal steckt an.

Kontrastprogramm in der Vorwoche: ein Liedernachmittag in der Staatsoper mit Daniel Barenboim am Klavier und der Sopranistin Anna Prohaska. Die 30jährige gilt als Nachwuchsstar, einigen gar als „Wunderkind“ der Opernszene. Auf dem Programm stehen Lieder unter anderem von Robert Schumann, Johannes Brahms, Franz Schubert – und leider auch von dem zeitgenössischen (Jahrgang 1952) Komponisten Wolfgang Rihm. Sein Zyklus „Ophelia sings“ ist derart erlesen disharmonisch, daß es einem die Schuhe auszieht. Wir gehen zur Pause.

Zurück zu Semino Rossi: Bei dem Lied „Für immer und einen Tag“ (Refrain: „Halt mich noch einmal fest, und laß mich nie mehr los./ Ich spür es tief in mir, es ist für immer“) hält ein Paar in der Reihe vor mir Händchen, beide etwa um die Fünfundsiebzig, und sie lassen sich für den Rest des Konzertes tatsächlich kaum mehr los. Wie liebevoll die beiden Grauen miteinander umgehen, das hat etwas ungemein Herzergreifendes.

„Sie machen jetzt keine Fotos mehr.“ Verdutzt schaue ich den Mann vom Sicherheitsdienst an. Seit bald einer Stunde schießen die Leute um mich herum ein Foto nach dem anderen, und auch jetzt noch wird neben mir pausenlos auf den Auslöser gedrückt. Ich aber soll damit aufhören. „Warum?“ frage ich. Er: „Weil ich es sage!“, dabei hebt er sein Revers an mit dem Schild der Sicherheitsfirma. Entgeistert und pulsbeschleunigt schaue ich ihn an, erspare mir aber die Frage, ob er das früher bei der DDR-Volkspolizei gelernt habe. Statt dessen ignoriere ich ihn einfach – und mache meine Fotos.

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