© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Auf den Exzeß konzentriert
Kino II: In dem Film „Jung & Schön“ des französischen Regisseurs François Ozon geht es um Sexualität und Prostitution
Claus-M. Wolfschlag

Der französische Regisseur François Ozon („8 Frauen“, „Swimming Pool“) hat sich in seinem neuen Film eines ebenso heiklen wie vielschichtigen Themas angenommen: Es geht um das Erwachen der Sexualität und um Prostitution. Dabei ist Ozon ein beeindruckendes Porträt gelungen, das vor allem durch das überzeugende Spiel der jungen Marine Vacth besticht. Das Model ist in seiner ersten Hauptrolle zu sehen und schafft es meisterhaft, der dargestellten Schülerin eine glaubwürdige Aura von emotionaler Kühle, Machtempfinden und Verführungskraft zu geben. Zugute kam Vacth, daß sie durch ihren Beruf über ein völlig ungezwungenes Körperbewußtsein verfügt.

Die Wege zur Prostitution sind vielgestaltig. Stand die Russin Lilja in Lukas Moodyssons Film „Lilja 4-ever“ (2002) als Opfer brutaler Zwangsprostitution für das eine Extrem, so verkörpert Ozons experimentierfreudige französische Bürgertochter Isabelle den entgegengesetzten Pol: Es ist ein Tag vor ihrem 17. Geburtstag, als die junge Französin im Sommerurlaub das erste Mal mit einem Jungen schläft. Sie beobachtet sich selbst während des Aktes, als stünde sie als Unbeteiligte neben sich. Das Ereignis läßt sie unbeeindruckt zurück, und sie vermeidet es, den Jungen nochmals zu treffen.

Kurze Zeit später beginnt Isabelle, Bilder ihres Körpers ins Internet zu stellen und sich als Escort-Girl zu prostituieren. Sie verabredet für 300 Euro Treffen mit meist älteren Männern in Hotelzimmern. Während ihr Gelddepot im Kleiderschrank wächst, ahnen ihre Eltern nichts von dem Treiben des Schulmädchens. Das Doppelleben fliegt erst auf, als bei einem Treffen mit dem ihr nicht unsympathischen Stammkunden Georges ein Unglück passiert.

Verständnislosigkeit schlägt ihr vor allem von ihrer Mutter entgegen, während die Männer des Familien- und Freundeskreises gelassen mit der Situation umgehen. Zudem wird Isabelle nun von den Frauen ihrer Umgebung als Gefahr und Konkurrenz mißtrauisch beäugt; das junge schöne Mädchen zwingt die Frauen, sich mit ihren eigenen Sehnsüchten, Ängsten und Enttäuschungen auseinanderzusetzen.

Auch hier hat Ozon eine Ursache der gesellschaftlichen Ächtung von Prostituierten feinfühlig herausgearbeitet. Isabelle versucht zurückzukehren und läßt sich auf eine normale Partnerschaft mit einem Schulkameraden ein. Doch bald greift sie wieder zum Handy, und man ahnt, daß sie nie wieder das Mädchen vor jenem Sommerurlaub an der Mittelmeerküste sein wird.

In der Diskussion um Prostitution (aktueller Emma-Titel: „Wir fordern: Prostitution abschaffen!“) geht es meist darum, daß gewalttätige Männer Frauen dazu zwingen. Dieses Klischee übersieht, daß es sich vielfach um reale soziale und wirtschaftliche Zwänge handelt, aufgrund derer sich Frauen prostituieren. Der Mensch ist nun einmal ein zwanghaftes Wesen, und kaum ist er sich der Ursachen seines Verhaltens bewußt.

So offenbart auch Isabelle wenig über ihr Verhalten gegenüber dem von der Mutter ausgesuchten Psychotherapeuten. Größere familiäre Probleme, auf die der Therapeut nach Lehrbuch abzuzielen versucht, verneint sie. Auch habe sie stets über genug Geld verfügt, erklärt das Mädchen aus gutbürgerlichem Haushalt. Das als Escort-Girl eingenommene Geld war ihr, wie oft bei Prostituierten, somit nur Fetisch des eigenen Wertes. Zudem habe es die Situation klarer gemacht, antwortet Isabelle.

Hier kommt man dem Kern näher. Isabelle bevorzugt Sex, der nicht überlagert ist durch Zärtlichkeiten oder Liebe. Das Geld schafft die notwendige Distanz vor solcher Art von Nähe und ermöglicht die Konzentration auf den Exzeß. Aus diesem Grund zeigt sie wenig Interesse an gleichaltrigen Verehrern und einer klassischen Partnerschaft. Im Gegensatz zu den Menschen in ihrer Umgebung, ihrer Familie und den Klassenkameraden, hat sie eine Ahnung von der Kraft und den Variationen der Sexualität. Dabei erregt Isabelle der sexuelle Exzeß weniger in seinem realen Moment, als vielmehr in der Rückschau. Das ist entfernt vergleichbar dem japanischen Touristen, der seine komplette Europa-Reise fotografisch festhält, um sich daheim an den Aufnahmen zu ergötzen, während er in der Hektik des konkreten Augenblicks vor Schloß Neuschwanstein keine Empfindung haben konnte.

Mit „Jung & Schön“ ist François Ozon eine würdige Neufassung von Bunuels „Belle de Jour“ gelungen, der 1967 entscheidend zur Entdeckung Catherine Deneuves beitrug. Doch wird sein Film vermutlich Kritiker auf den Plan rufen, denen nicht nur die Qualität des leichtfüßig inszenierten Werks verschlossen bleibt, sondern die ihm eine unangemessene Beschäftigung mit der sozialen Problematik oder gar Altherrenphantasien vorwerfen. Sei’s drum. In Wahrheit beschäftigt sich Ozon mit der Macht und dem Mysterium des Sexus.

Foto: Isabelle (Marine Vacth): Die 17jährige verabredet sich für 300 Euro mit meist älteren Männern

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