© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Heimaturlaub vom Kaiser
Richard van Emden über besondere deutsch-britische Beziehungen während des Ersten Weltkriegs
Wolfgang Kaufmann

Im Sommer 1916 schickte der kriegsgefangene britische Captain Robert Campbell, der seit zwei Jahren in einem Lager bei Magdeburg einsaß, einen persönlichen Brief an Kaiser Wilhelm II. und bat um zeitlich begrenzte Entlassung „auf Ehrenwort“ zwecks Besuches seiner sterbenden Mutter in England. Und tatsächlich genehmigte Seine Majestät den Urlaub, woraufhin Campbell bis zum Tode seiner Mutter an deren Bett weilen konnte, um danach über Umwege nach Deutschland zurückzukehren.

Daß einem Gefangenen der Gegenseite ein derartiges Privileg zuteil wurde, resultierte aus den überaus engen und vielfach freundschaftlichen Beziehungen zwischen deutschen und britischen Militärs sowie auch Deutschland und dem Vereinigten Königreich insgesamt, welche bis zur englischen Kriegserklärung vom 4. August 1914 bestanden. So war Kaiser Wilhelm II., selbst Sohn von Prinzessin Victoria von Großbritannien und Irland, unter anderem Ehrenoberst eines britischen Regimentes, nämlich der 1st Royal Dragoons. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich zweifellos, der Frage nachzugehen, was passiert, wenn zwei in dieser Gestalt miteinander verflochtene Nationen im Krieg aufeinandertreffen. Eine aktuelle und besonders detaillierte Antwort hierauf liefert das mittlerweile bereits fünfzehnte Buch, welches der britische Erfolgsautor Richard van Emden über den Ersten Weltkrieg vorlegt.

Zunächst wird darin thematisiert, daß zahlreiche, meist eingebürgerte Deutsche in Großbritannien lebten: insgesamt 57.000 an der Zahl. Dies nährte die Furcht vor Spionen, die phasenweise regelrecht hysterische Züge annahm und zur Deportation beziehungsweise Internierung vieler Deutscher führte. Dabei blieben auch gewaltsame Übergriffe nicht aus, die freilich nur von englischen Zivilisten begangen wurden.

An der Front kontrastierte die unvorstellbare Grausamkeit der Materialschlachten und Grabenkämpfe mit Momenten der Menschlichkeit, wofür insbesondere die spontane deutsch-britische Waffenruhe von Weihnachten 1914 steht mit ihren mit Fußballspielen und Tauschbörsen im Niemandsland zwischen den Gräben, welche an manchen Abschnitten bis zu zehn Tage dauerte und 1915 eine partielle Wiederholung fand, obwohl den Beteiligten nun Kriegsgerichtsverfahren drohten. Am Ende gab es dann aber stets nur ausgedehnte Urlaubssperren, damit die Menschen in der Heimat nichts von den Verbrüderungen an der Front erfuhren.

Auch bei der Versorgung von Verwundeten und im Umgang mit Gefangenen bemühten sich Deutsche und Briten oft um humane Lösungen, die weit über das hinausgingen, was das Kriegsrecht vorschrieb. Wie Richard van Emden hier auf der Basis von Tagebüchern oder Briefen nachweist, entschied letztendlich die persönliche Haltung der jeweiligen Akteure vor Ort, ob die kriegsbedingten Animositäten obsiegten oder es zu einem respektvollen bis freundschaftlichen Umgang kam, denn spezielle explizite Befehle lagen in den allermeisten Fällen nicht vor. So gewannen die Grabenkrieger von der Insel recht schnell den Eindruck, daß mit den „gemütlichen“ sächsischen Truppen am ehesten ein Modus Vivendi zu finden sei, während die Preußen allgemein als stur galten.

Dominierte die feindselige Haltung, waren auf beiden Seiten gravierende Kriegsverbrechen möglich, die van Emden gleichermaßen erwähnt. So wurden Gefangene oder Verwundete nicht nur niedergemacht, sondern auch ausgeplündert, was eine Identifikation der Toten und die Benachrichtigung der Angehörigen verhinderte. Allerdings entsprachen keineswegs alle Pressemeldungen über gegnerische Verfehlungen der Wahrheit – dies galt insbesondere für die Haßtiraden der Gazetten im Vereinigten Königreich. Offensichtlich hatten höhere Stellen dort ein erhebliches Interesse daran, die Stimmung mittels Propagandalügen anzuheizen, wohl um ein weiteres Fraternisieren zu verhindern. Aber auch unter deutschen Soldaten zeitigte die psychologische Kriegführung Wirkung, wie ihre fast schon komische Furcht vor britischen Einheiten beweist, die angeblich aus Kannibalen aus den Kolonien bestehen sollten.

Bei den Verstößen gegen das Kriegsrecht kam es meist zu einer stufenweisen Eskalation in Reaktion auf Handlungen der Gegenseite. So begannen die Briten im Frühjahr 1916 damit, deutsche Kriegsgefangene zur Arbeit im unmittelbaren Frontbereich heranzuziehen, was laut Haager Landkriegsordnung untersagt war. Daraufhin wurden, weil Proteste nichts fruchteten, im Februar 1917 deutscherseits 500 gefangengenommene britische Marineinfanteristen zum Schützengrabenbau an die Ostfront entsandt, wo die Mehrzahl an Kälte und Hunger starb. Die Folge hiervon war eine Order des War Cabinet vom April 1917, Kriegsgefangene keinesfalls mehr näher als dreißig Kilometer an die Kampflinien heranzuführen, was im Mai mit einem ganz ähnlichen deutschen Befehl beantwortet wurde.

Mit der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges zum 1. Februar 1917 verschlechterten sich die Bedingungen für die Internierten und Gefangenen in Deutschland und England, denn jetzt mußten die Schiffahrten im Zusammenhang mit Repatriierungen und dem Austausch verwundeter Gefangener unterbleiben. Die Konsequenz hieraus war ein rapider Verfall der Betroffenen: Krankheiten und Selbstmorde begannen sich zu häufen. Deshalb wurde der Austausch im Oktober 1917 wieder aufgenommen, abgewickelt mittels dreier Rotkreuzschiffe via Rotterdam.

Als die Lage der Mittelmächte im Verlaufe des Jahres 1918 immer prekärer wurde, nahmen die Entgleisungen gegenüber den insgesamt etwa 120.000 britischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern spürbar zu. Besonders unrühmlich fiel dabei Flavy-le-Martel auf, welches unter dem Kommando von Hauptmann Emil Müller stand. Hier starben im Frühjahr 1918 im Durchschnitt sechs Gefangene pro Tag, was ein gerichtliches Nachspiel hatte.

Nachdem der Krieg für Deutschland verloren war, beteiligten sich Soldaten des Empire an der teilweisen Besetzung des Landes, die am 1. Dezember 1918 begann. Und auch hier zeigte sich der besondere Charakter der Beziehungen zwischen dem Reich und Großbritannien: die Anwesenheit britischer Truppen erregte bei den Deutschen sehr viel weniger Ärger als der Einmarsch der Franzosen.

Richard van Emden: Meeting the Enemy. The Human Face of the Great War, Bloomsbury Publishing, London 2013, gebunden, 384 Seiten, Abbildungen, 18,95 Euro

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