© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Alle gegen einen
Deutschland erntet Kritik für seine starke Wirtschaft. Dabei ist sie es, die Europa noch am Laufen hält
Thorsten Hinz

Die amerikanische Regierung, der Internationale Währungsfonds und die EU-Kommission sind sich einig: Deutschland exportiert zuviel, es importiert und konsumiert zuwenig. Das Ungleichgewicht im Handel lasse andere Länder verarmen und bringe die Weltwirtschaft in Schieflage. Deshalb will Brüssel die deutsche Wirtschaftspolitik einer Tiefenkontrolle unterziehen, die mit einer Milliardenstrafe für den Hauptnettozahler in der EU enden könnte.

Der Eindruck entsteht, daß ausländische Konsumenten mit vorgehaltener Pistole gezwungen werden, deutsche Waren zu kaufen. Sie tun es jedoch absolut freiwillig, weil ihre Qualität und ihr Preis sie überzeugt. 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus sollte klar sein, welche Konsequenzen die konkurrierenden Volkswirtschaften daraus zu ziehen haben: Sie müssen genauso gut wie oder besser produzieren als die deutsche. Auf daß künftig die globalen Kunden auf spanische Geschirrspüler, amerikanische Autos oder portugiesische Werkzeugmaschinen zugreifen.

Die EU, die vor zehn Jahren noch zur dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt aufsteigen wollte, will stattdessen Reglementierungen. Frankreichs Notenbank-Chef Christian Noyer hat für Deutschland diese Empfehlung parat: „Mehr Kindergartenplätze könnten etwa dafür sorgen, daß mehr junge Mütter berufstätig bleiben, Einkommen beziehen und damit mehr konsumieren.“ Huxleys „Schöne neue Welt“ läßt grüßen. Wozu noch Muttterliebe, wenn das wahre Lebensglück der modernen Europäerin in der Konsum- und Warenwelt liegt?

Was wie ein Faschingswitz klingt, kann eine unheimliche Automatik auslösen, die jede ökonomische Vernunft außer Kraft setzt. An ihre Stelle würde eine politisch motivierte Globalsteuerung treten. Das historische Vorbild ist der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), der relativ entwickelte Länder wie die DDR und die Tschechoslowakei auf Sowjetniveau herabdrückte. Will Brüssel für ganz Europa ein ökonomisches Mittelmeerniveau verordnen? Das würde langfristig auf die faktische Deeindustrialisierung des Kontinents hinauslaufen und dafür sorgen, daß Europa im Weltmaßstab weiter an Boden verliert.

Gewiß gibt es eine Reihe peripherer Probleme wie das deutsche Niedriglohn-Niveau. Das Hauptproblem aber ist die fatale Einheitswährung. Sie hat ein absurdes und zugleich hyperkomplexes System geschaffen, das niemand mehr überschaut und das sich in seinen Widersprüchen mehr und mehr verheddert. Allein Deutschland hält das System noch aufrecht, zahlt dafür allerdings einen hohen Preis: die Ersparnisse seiner Bürger.

Es ist offensichtlich, daß die Nachbarn nicht stärker werden, wenn sie Deutschland schwächen. Die Kampagne, könnte man vermuten, hat daher in Wirklichkeit den Zweck, politischen und psychologischen Druck aufzubauen. Gerade hat der ehemalige belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt – ein sogenannter „überzeugter Europäer“ – geäußert, die Lösung des Konflikts könne darin liegen, daß Deutschland einem europäischen Schuldentilgungsfonds und einer Bankenunion, also einer Haftungsgemeinschaft, zustimmt. Dadurch würden die Zinssätze sinken, zu denen die anderen Staaten sich verschulden. Was er unterschlägt: Die Problemländer könnten sich noch mehr als bisher auf die deutsche Zahlungswilligkeit ver- und eigene Reformanstrengungen unterlassen.

Deutschland steht ziemlich isoliert auf weiter Flur, gescholten als europäischer und globaler Bösewicht, was ein wenig an die Konstellation von vor 100 Jahren erinnert. Natürlich denkt heute niemand an Krieg, aber die aktuelle Situation könnte jene, die wegen 1914 (und 1939) immer noch an der Alleinschuld-Leier drehen, darüber belehren, daß es keiner gezielten Aggressivität des Deutschen Reiches bedurfte, um die Gegnerschaft des Auslands auf sich zu ziehen.

Die Bundesrepublik wollte es ausdrücklich besser machen. Deshalb hat sie nach der Wiedervereinigung auf eine autonome Staatsräson verzichtet, an ihre Stelle die Europa-Ideologie gesetzt und ihrer währungspolitischen Kastration zugestimmt. Dahinter steckte die Angst vor neuer Isolation und Überforderung. Genützt hat das nichts. Es gibt eben politische Konstanten, denen man nicht entfliehen kann, sondern die politische Antworten erfordern. Angst ist niemals ein guter Ratgeber. Am Anfang einer Lageanalyse müßte folgende Einsicht stehen: Es ist etwas Merkwürdiges und Besonderes mit diesem Deutschland.

Zweimal haben Europa und die halbe Welt sich im 20. Jahrhundert zusammengefunden, um es zu Boden zu werfen. Es wurde zerbombt, besetzt, verstümmelt, der verbliebene Rest zerteilt, geplündert und mit ungeheuren Kontributionen belegt, die bis heute unter immer neuen Bezeichnungen und Vorwänden erneuert werden. Es ist mit inferioren Funktionseliten geschlagen, die täglich neuen Schaden stiften.

Und dennoch steht es im internationalen Vergleich an der Spitze, und Europa und die halbe Welt – die im kommenden Jahr ihrer beiden Weltkriegssiege gedenken werden – erwarten von ihm, daß es sie wenn nicht rettet, so doch ihre Konjunktur ankurbelt. Es ist und bleibt ein unverzichtbares Land. Ein wenig Selbstbewußtsein, ein bißchen demütigen Stolz darf man daraus wohl schöpfen.

Man könnte in aller Vorsicht andeuten, daß man die moralischen Erpressungsmanöver durchschaut, sie satt hat und um die Betrügereien, Rechtsbrüche und nationalen Egoismen weiß, die damit transportiert werden. Man könnte auf den sinkenden Anteil der EU-Staaten am deutschen Außenhandel hinweisen und auf dessen alternative Optionen. Man könnte. Doch welcher deutsche Politiker kann es?

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