© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Eine Fahrkarte für den falschen Zug
Euro-Krise: Eine EU-Arbeitslosenversicherung wäre der Einstieg in die Sozialunion / Unvereinbare Systeme
Dirk Meyer

Vor zwei Monaten legte der Internationale Währungsfonds (IWF) unter dem Titel „Toward a Fiscal Union for the Euro Area“ seine Pläne für eine umfassende Fiskal- und Sozialunion innerhalb der EU vor (JF 42/13). Teil des detaillierten Vorschlags zur Euro-Rettung ist angesichts der dramatisch gewachsenen Erwerbslosigkeit in den überschuldeten Krisenländern eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung. Auch die EU-Kommission hat eine Initiative für eine Europäische Arbeitslosenversicherung (EALV) gestartet.

Hintergrund des Diskussionsbeitrages, für den Sozialkommissar László Andor verantwortlich zeichnet, sind die in der Euro-Krise offenbarten konjunkturellen Ungleichgewichte zwischen den Krisenstaaten und der Kernzone. Der Vorschlag zu einer EALV ist zugleich ein Indiz dafür, daß die Währungsunion (EWU) nicht im Sinne eines optimalen Währungsraumes funktioniert. Systemkonform im Sinne des Lissabon-Vertrages und des dort festgeschriebenen Verbots des monetären und fiskalischen Beistands wäre deshalb der Austritt der Krisenstaaten und die Konzentration auf eine Euro-Kernunion.

Steht hingegen der Erhalt der Euro-Zone im Kreis der jetzigen Mitglieder als unverrückbares politisches Ziel, so ist eine EALV durchaus folgerichtig. Die Idee eines automatischen Stabilisators funktioniert folgendermaßen: Kommt es in einen Land aufgrund konjunktureller Schwäche zu einer Produktionslücke, so bekämen Arbeitslose aus der EALV Zahlungen. Sollten sich andere Euro-Länder zeitgleich in einer Boomphase befinden, würden entsprechende Zahlungen in diesen Haushalt fließen. Im Ergebnis erfolgt eine Glättung der Nachfrage über die Euro-Zone.

Der Andor-Plan unterscheidet zwei Möglichkeiten. Während in Modell eins Globalüberweisungen aus einem EU-Fonds in den Haushalt des konjunkturell schwachen Landes fließen, entspricht Modell zwei einem individuellen Sicherungssystem, das entweder direkt Zahlungen an Arbeitslose übernimmt oder Mittel zweckgebunden an die nationale Arbeitsagentur gibt. Globalüberweisungen kranken an einem zeitintensiven Aushandlungs- und Planungsprozeß. Damit ist fraglich, ob die Mittel zeitnah ausgegeben werden können. Ohne Verwendungsauflagen ist ein konsumtiver Einsatz nicht zwingend. Darüber hinaus sind die Berechnungen der Produktionslücke methodisch mit hohen Unsicherheiten behaftet. Demgegenüber kennzeichnet das individuelle Sicherungssystem einen Automatismus ohne laufende politische Einflußnahme. Die EALV würde die nationale Sicherung in gleichem Umfang entlasten.

Diesen Vorteilen steht jedoch eine Reihe von Problemen entgegen. So reagieren die Unternehmen im Konjunkturverlauf zeitverzögert mit Entlassungen und Einstellungen. Der automatische Stabilisator verliert damit an Wirksamkeit. Außerdem besteht die Gefahr permanenter Transfers, da eine Trennung von konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit schwierig ist, je nach Land unterschiedliche Ausmaße hat und im Zeitablauf aufgrund der Dynamik der Arbeitsmärkte und seiner gesetzlichen Grundlagen einem Wandel unterliegt.

Eine politische Einflußnahme liegt deshalb im Interesse der Krisenländer. Die Bemühungen der Staaten zu nationalen Arbeitsmarktreformen erlahmen. Mißbrauchskontrollen werden weniger interessant, da die Sozialgelder teilweise dem „großen Topf“ entnommen werden. Klärung verlangt auch die Frage, anhand welcher Maßstäbe die Zahlungen erfolgen sollen. Nicht nur die Anspruchsvoraussetzungen sind unterschiedlich, sondern auch die Art der Hilfen wie Kurzarbeit, Umschulung oder Schlechtwettergeld. Damit ließe sich die Notwendigkeit einer EU-weiten Harmonisierung rechtfertigen. Wie der Titel des Andor-Papieres nahelegt, ist der Plan einer EALV in das Vorhaben einer „Ertüchtigung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion“ eingebettet. Gefordert wird ein institutionelles Rahmenwerk zur Förderung der Konvergenz und der Wettbewerbsfähigkeit. Im Zentrum steht die Errichtung einer eigenständigen Fiskalkapazität für die Euro-Zone auf EU-Ebene. Damit nimmt der Andor-Plan direkt Bezug auf den Zwischenbericht von EU-Rat und Präsident „Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion“, der diesen Finanzmitteln zwei wesentliche Aufgaben zuweist.

Zum einen sollen die Finanzmittel konjunkturelle Ungleichgewichte auffangen. Zum anderen soll die Fiskalkapazität aber auch „strukturelle Reformen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und des Potentialwachstums“ befördern. Nukleus dieser der Höhe nach nicht konkretisierten Finanzmittel könnten die EU-Struktur-, Sozial- und Regionalfonds sein. Mit ihnen sind bereits heute erhebliche Transfers zwischen den europäischen Regionen verbunden.

Langfristig nivelliert die „soziale Dimension“ die soziale Sicherung der EU-Mitgliedstaaten, schaltet damit einen wichtigen Wettbewerbsparameter aus und behindert das Entdeckungsverfahren im sozialen Bereich. Vielfalt, die Berücksichtigung nationaler Präferenzen, Anreizkompatibilität, demokratische Legitimation und Experimentierfreudigkeit werden verhindert. Die EALV ist daher eine Fahrkarte für den falschen Zug. Der gemeinsame Abstieg der Transferunion in die Provinzliga der Globalisierung wäre nur eine Frage der Zeit.

 

Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. In seinem jüngsten Buch „Euro-Krise: Austritt als Lösung?“ (Lit Verlag 2012) analysiert er Alternativen zur Euro-Rettungspolitik.

 

EU-Arbeitslosenversicherungssysteme

Die Höhe des Arbeitslosengeldes sowie die Dauer und Bedingungen seines Erhalts sind in den EU-Staaten höchst unterschiedlich geregelt. Bei 382 Euro plus Wohngeld liegt das Minimum für Alleinstehende in Deutschland. Für Ehepartner gibt es 345 Euro, für Kinder jeweils zwischen 224 und 289 Euro. Das ist für Bulgaren, Portugiesen oder Rumänen ein Traum – Franzosen oder Österreicher würden wohl auf die Barrikaden gehen, wenn sie wüßten, daß Voraussetzung für die Zahlung des pauschalen Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) das vorherige Aufbrauchen fast sämtlichen Vermögens ist. Das Arbeitslosengeld I wird ohne Anrechnung gezahlt, allerdings nur für ein Jahr und lediglich in Höhe von 60 Prozent des früheren Gehalts. Dänen erhalten vier Jahre lang 80 bis 90 Prozent. Sie können mit 55 – statt 63 wie in Deutschland – in Frührente gehen. Auch einen Berufs- und Qualifikationsschutz gibt es in Deutschland oder den Niederlanden nicht mehr – doch es wären vor allem die Steuerzahler in diesen beiden Ländern, die pro Kopf am meisten für eine EU-Arbeitslosenversicherung einzahlen müßten. (fis)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen