© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Finger weg vom Finanz-Kasino
Anlageprodukte: Derivate und Repos befördern die Selbstzerstörung der internationalen Finanzmärkte
Christoph Braunschweig

Das Geld- und Finanzsystem hat sich in den vergangenen Jahren zu einem regelrechten Zocker- und Ponzi-System entwickelt. Im modernen „Kasino-Kapitalismus“ (Hans-Werner Sinn) muß Geld nicht mehr mit realen Werten hinterlegt werden. Vielmehr ist es in diesem synthetischen Kreislauf nur hinterlegt mit Papieren, auf denen steht, daß sie Geld wert wären. Geld wird in diesem System etwas wert, wenn es durch viele Hände geht; mit jeder Transaktion ist weiteres Geld verbunden: Zinsen, Gebühren, Provisionen. Geld wird nur noch mit Geld verdient, nicht mehr mit echter Wirtschaftsleistung.

Die Realwirtschaft ist den meisten Finanzinstituten mehr oder wenig gleichgültig. Sie brauchen das Geld für das große Spiel im Finanz-Kasino. Wer nicht mitspielt, also nur die vergleichsweise mickrigen Ergebnisse des normalen Bankgeschäftes vorweist, wird vom Aufsichtsrat und den Aktionären abgestraft. Da es obendrein mehr als genug Banken gibt, die über kein eigenes tragfähiges Geschäftskonzept verfügen – von den öffentlichen deutschen Landesbanken bis hin zu Commerzbank und HRE –, flüchten sie in Geschäftsbereiche, in denen sie nichts verloren haben, wo aber den Managern hohe Boni winken.

Daß Kredite nicht mehr nur gegen entsprechende Sicherheiten vergeben werden, wurde spätestens im Rahmen der US-Subprime-Krise ab 2007 deutlich. Die Banken haben die verschiedenen Immobilienkredite einfach verbrieft („Securityzation“) und so lange gebündelt, bis keiner mehr wußte, wer von den Kreditnehmern überhaupt in der Lage ist, seine Schulden zurückzuzahlen. Praktischerweise attestierten die großen drei Ratingagenturen die AAA-Bonität dieser Finanzinstrumente. Gleichzeitig kamen Papiere auf den Markt, die Wetten auf diese undurchsichtigen Kreditpakete zum Inhalt hatten. Solche abgeleiteten „Derivate“ dienten ursprünglich dem Risikomanagement. Sie weisen daher ein hohes Maß an vertraglicher Freiheit auf. Bei sachgerechtem Gebrauch sind Derivate durchaus sinnvoll. Doch damit lassen sich eben auch Entwicklungen überzeichnen – zweifach, dreifach, hundertfach. Man kann auf steigende oder fallende Entwicklungen setzen.

Ein kleiner Einsatz ermöglicht riesige Gewinne – oder enorme Verluste. Der Derivatemarkt hat sich längst verselbständigt, die Papiere sind überwiegend Wetteinsätze für Spekulationsgeschäfte zwischen den Finanzinstituten. Der erfolgreiche US-Fondsmanager Warren Buffet nannte sie „finanzielle Massenvernichtungswaffen“, denn Derivate blähen sich zu gigantischen Kredit- und Schuldenbergen auf. Mit jedem Weiterverkauf werden erneut Zinsen und Gebühren berechnet, das Geschäft scheint ins Unermeßliche zu wachsen.

Damit eine Bank möglichst viele dieser gut verzinsten Papiere kaufen kann, braucht sie viel Geld: In früheren Zeiten verschaffte sie sich dieses Geld bei anderen Banken im Rahmen von Rückkaufsvereinbarungen (Repurchase Agreement/Repos). Auf dem Repomarkt können Wertpapiere unmittelbar in billige Liquidität verwandelt werden, indem sie pro forma verkauft werden und ein feststehender Rückkauftermin vereinbart wird. Auf diese Weise vergibt auch die Europäische Zentralbank (EZB) den Großteil ihrer Kredite ans Bankensystem, wobei sie angesichts der Euro-Krise immer windigere Sicherheiten akzeptiert. Auch im privaten Repogeschäft bekommen die Geldgeber Wertpapiere übereignet, die sie erst am Rückkauftermin wieder bereitstellen müssen. Bis dahin liegt es in ihrem Ermessen, was sie mit diesen Papieren machen.

Die Zinscoupons verbleiben allerdings beim Kreditnehmer. Folglich liegt es nahe, diese ihrerseits auf die Reise zu schicken und gegen Liquidität zu tauschen, die wiederum für neue Spekulationsgeschäfte zur Verfügung steht. Dem Kreditgeber steht es nun frei, mit den übernommenen Wertpapieren ebenso vorzugehen, woraus sich ein enormer Hebel-Effekt (leverage) ergibt. Dieser Prozeß wird „Rehypothecation“ genannt. Die Repos sind daher eine Art Lebenselixier für die Banken: Die einen bekommen schnell Geld für spekulative Geschäfte, die anderen kassieren überdurchschnittlich hohe Zinsen.

Das ging so lange gut, bis die Banken anfingen, sich aus gutem Grunde gegenseitig zu mißtrauen. Kommt nämlich der Ruf nach Rückgabe über Nacht oder gibt es keine weiteren Kredite, dann ist die Schuldnerbank schnell am Ende, weil das Eigenkapital viel zu gering ist. Die Grundregel des Bankgeschäftes, wonach langfristig von Sparern zur Verfügung gestellte Mittel kurz- und mittelfristig als Kredite für reale Investitionen ausgereicht werden, spielt in diesem Finanz-Kasino keine Rolle mehr. Besonders die Mißachtung des Prinzips der Fristenkongruenz führt zu einer systemimmanenten Instabilität der Derivate-Repo-Geschäfte. Genau so ist es gekommen: Bear Stearns und Lehman Brothers brachen vor fünf Jahren wegen Repos zusammen.

Mit Derivaten und Repos haben die Banken das Grundprinzip des Geldes ohne Sicherheiten (fiat money) zur scheinbaren Perfektion gebracht, zu einer Maschine, die aus sich selbst funktioniert und scheinbar keine Grenzen kennt. Das ganze Vorgehen beruht auf dem Prinzip Schuldner-Gläubiger. Der eine nimmt, der andere gibt – immer im Kreislauf, immer weiter.

Nach der Lehman-Pleite und der folgenden Bankenrettung durch den Steuerzahler haben gerade die „Big Player“ des internationalen Finanzsystems erkannt, daß das Spiel in ihrem Sinne und für sie praktisch risikolos funktioniert. Denn es gelang den Finanzlobbyisten, Politik und Medien einzureden, das ordnungspolitische Grundgesetz der Einheit von Risiko und Haftung für sich außer Kraft zu setzen. Die Staaten sorgten dafür, daß letztlich die Steuerzahler für die enormen Verlustrisiken haften und aufkommen. Unter dem Motto too big to fail – ein Bankenabsturz reißt die ganze Welt in den Abgrund – werden Derivate quasi staatlich garantiert. Derivate gesetzlich zu „sicheren Häfen“ (safe haven) erklärt.

Zu diesem Zweck wurde das Insolvenzrecht für Banken geändert: Wenn eine Bank auf dem Umweg von Derivaten in den Besitz von Wertpapieren gekommen ist, kann sie diese im Falle einer Pleite des Gegenübers (also des Schuldners) für sich behalten und weiterverwerten. Dies ist aber nichts anderes als eine völlig „legale“ Enteignung der normalen Bankgläubiger. Der unschätzbare Vorteil dieser Regelung: Die Gläubigerbank wird bevorzugt behandelt. Während es im klassischen Insolvenzrecht genau eine solche Bevorzugung von Gläubigern nicht gibt, wurde sie im Fall der Derivate zur Norm erklärt: Die normalen Gläubiger, die Bankkunden der Bank, die Steuerbehörden oder Anleihebesitzer gehen leer aus. Durch zwei klammheimlich verabschiedete EU-Direktiven haben die Derivate-Besitzer heute auch in der EU einen bevorzugten Gläubiger-Status im Fall einer Bankenpleite.

Für die Banken ergibt sich somit folgendes Geschäftsprinzip: Derivate werden an Anleger mit vergleichsweise geringer Verzinsung verkauft. Weil die Leitzinsen von EZB & Co. gegen Null tendieren, werden Anleger regelrecht in etwas höher verzinsliche Derivate getrieben. Die Derivatebank gewinnt auf jeden Fall. Im Falle eines Crashs konfisziert sie das Eigentum des Schuldners – und kann es, was es in der Realwirtschaft nirgendwo gibt, sofort wieder verkaufen. Das Spiel geht weiter.

Und kein Insolvenzverwalter kann gegen diese Gläubigerbevorzugung etwas Wirksames unternehmen, wie 2011 der Fall MF Global zeigte. Investmentbanken verzocken das Geld anderer Banken oder das von Firmen und Großanlegern. Der Derivate-Broker MF Global spielte direkt mit Kundengeldern: Über die Safe-Haven-Regelung landeten die Derivate bei anderen Banken. 1,2 Milliarden Dollar waren auf einmal „verschwunden“. Es wird vermutet, daß das Geld über Derivate letztlich zur New Yorker Investmentbank JP Morgan wanderte.

Normale Bankkunden, die Derivate kaufen, sitzen immer am kürzeren Hebel. Wie die einzelnen Papiere nämlich wirklich funktionieren, verstehen meist nur jene, die sie gezimmert haben. Und dies ist ein unschätzbarer Vorteil für den Verkäufer, und ein Hauptgrund der Emission. Und wer nicht durchblickt, weiß auch nicht, wie horrend die in der undurchsichtigen Konstruktion versteckten Gebühren sind. Die Nebelkerze „Bankenregulierung“ ist nur raffinierte Täuschung von Anlegern und Steuerzahlern. Denn das Derivategeschäft wurde in ein Paralleluniversum verlagert: das Schattenbanksystem. Es umfaßt ein Volumen von schätzungsweise 60 Billionen Dollar. In diesem System dienen Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften und kreative Finanzvehikel dazu, Risiken zu verschleiern und die offiziellen Bankbilanzen „sauber“ aussehen zu lassen.

Der absehbare Crash wird vermutlich in Etappen ablaufen. Und diejenigen, die am Ende enteignet werden, ahnen nichts davon. Es werden die Steuerzahler, Sparer und Bankkunden sein. Ihr Geld wird genauso weg sein wie bei der MF Global. Es wird dann „legal“ Eigentum der Derivateinhaber – also von JP Morgan, Goldman Sachs & Co., die die Gelder als Sicherheiten „weiterverwerten“. In Zypern kam es im Frühjahr dieses Jahres erstmals zu einer Zwangsabgabe bei ungesicherten Einlagen. Für die EU ist es die „Blaupause“ für künftige Bankenpleiten. Dieser Enteignung liegt das Prinzip zugrunde, daß derjenige, der das Geld wirklich besitzt, in einer unvergleichlich besseren Position ist als derjenige, dem es eigentlich gehört.

Die Entartung des Finanzsystems, die irgendwann zu dessen Selbstzerstörung führen wird, verursacht bereits heute schädliche Verwerfungen in der Volkswirtschaft: Der inflationäre Auftrieb bei den Vermögensanlagewerten („Flucht in die Sachwerte“) kontrastiert auffällig mit einer „real existierenden Deflation“ in anderen Bereichen: Der stark wachsenden Menge von Derivaten steht ein zunehmender Liquiditätsmangel im Unternehmensbereich gegenüber. Ursache der Misere ist aber kein „entfesselter Kapitalismus“, sondern vielmehr die vorsätzliche Mißachtung aller Grundsätze der marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik.

 

Christoph Braunschweig ist Professor der Staatlichen Wirtschaftsuniversität Jekaterinburg. Der Schüler von Friedrich A. von Hayek ist Autor zahlreicher Fachbücher.

www.christoph-braunschweig.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen