© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Die Qual ausdrücken
Die Zeremonie der Unschuld geht zu Ende, wenn der Schlechte über den Guten siegt: Zum hundertsten Geburtstag des englischen Komponisten Benjamin Britten
Jens Knorr

Die Deutschen haben Bayreuth und Wagner, die Briten haben Aldeburgh und Britten. Spätestens mit dem Uraufführungserfolg seiner groß besetzten Oper „Peter Grimes“, 1945 am Sadler’s Wells, London, war der englische Komponist Benjamin Britten als neuer „Orpheus Britannicus“ ausgeschrieben. Die Situation des englischen Theaters allerdings war insgesamt prekär.

Ein Ensemble- und Repertoiretheater, wie es sich im deutschen Stadttheatersystem zu organisieren vermochte, ist Erbteil deutscher Kleinstaaterei und in Ländern mit früher staatlicher Zentralgewalt unbekannt. Um die Aufführungschancen zu erhöhen, komponierte Britten seine nächste Oper für Kammerbesetzung. Aus dem Uraufführungs-Ensemble von „The Rape of Lucretia“ ging die mobile „English Opera Group“ hervor, die dann ab 1948 ihre feste Spielstätte in Aldeburgh fand.

Hier verwirklichten Britten, sein Lebensgefährte, der Tenor Peter Pears, und Regisseur Eric Crozier ihre Idee eines Festivals klassischer Musik, die weit darüber hinausging, lediglich ein Forum für Kompositionen Brittens zu bieten. Für die selbstverständlich auch. Seine Opern „A Midsummer Night’s Dream“, 1960, und „Death in Venice“, 1973, die für das Festival komponierte Kantate „Saint Nicolas“ und verschiedene andere Werke wurden in Aldeburgh uraufgeführt.

In Aldeburgh, einer etwa 140 Kilometer nordöstlich von London gelegene Kleinstadt an der Nordseeküste der englischen Grafschaft Suffolk, hat Britten seit 1947 bis zu seinem Tod 1976 gelebt. Geboren wurde er in Lowestoft, der östlichsten Stadt Großbritanniens, weniger als 50 Kilometer von Aldeburgh entfernt. Seine musikalische Begabung wird von den Eltern erkannt und, insbesondere von der Mutter, gefördert. Früh erhält er Unterricht, früh beginnt er zu komponieren. Nach Abschluß der Schule erhält er ein Stipendium für das Royal College of Music. Die Arbeiten des Studenten erregen die Aufmerksamkeit renommierter Musiker, Musikverlage, Rundfunkanstalten. Der junge Komponist verdient sich seinen Lebensunterhalt mit Auftragsmusiken für Film, Theater und Rundfunk. Er lernt die Schriftsteller Christopher Isherwood und Wystan Hugh Auden kennen, vertont Gedichte des letzteren, 1936 „Our Hunting Fathers“, 1937 „On this Island“. Er lernt den Tenor Peter Pears kennen – und lieben. Die beiden werden ein Paar. Pears überlebt Britten um zehn Jahre. Auf dem Gemeindefriedhof von Aldeburgh liegen sie beieinander, Lord Britten und Sir Pears.

Dem Militärdienst entziehen sich Britten und Pears 1939 durch eine schon länger erwogene Reise von dem alten zum neuen Kontinent. Drei Jahre leben sie in Amerika, kokettieren gar damit, die US-amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen, konzertieren gemeinsam und solistisch. In Amerika entstehen gewichtige Werke wie „Les Illuminations“ und die „Sonnets of Michelangelo“ für Pears, „Sinfonia da Requiem“, die Operette „Paul Bunyan“ auf ein Libretto von Auden.

Mit einem Opernauftrag Serge Koussevitzkys kommt Britten nach Großbritannien zurück, den Stoff findet er in Gedichten George Crabbes. „Peter Grimes“ enthält bereits all die Themen und Modelle, die Britten in seinen weiteren Bühnenwerken entfalten und variieren wird: Verwurzelung in der englischen Musik und ihrer Landschaft, Verbundenheit in Zu- und Abneigung mit den Leuten dieser Landschaft, das schicksalhafte Ge- und Verworfensein des einzelnen, vor allem aber die immer neu durchgespielte Figur des intentionalen und existentiellen Außenseiters.

Musik offenbart und verschlüsselt gleichermaßen, der Ausdruck des Geschichtlichen an ihr kann sowohl gehört als auch überhört werden, insonderheit bei einem Komponisten, der seine Homosexualität offen, wenn auch mit britischem Understatement, in einem Land lebt, in dem sie auszuleben unter Strafe steht. Zwar erhält Britten den Auftrag zu einer Krönungsoper für Elizabeth II., „Gloriana“, deren Uraufführung 1953 zu einem seiner seltenen Mißerfolge gerät, trotzdem wird er gemeinsam mit Pears von der königlichen Familie empfangen. Auch schickt die Queen Pears nach dem Tod seines Longtime Companion ein Kondolenzschreiben. Aber sicher war beider Lage nie.

Brittens Musik enthüllt und verhüllt, wirft sich zudringlich an den Hörer heran und entzieht sich seiner Zudringlichkeit, rückversichert sich ängstlich bei der Tradition, wo doch die Sehnsucht ins Ungebundene geht. Hat der Frankfurter Meisterphilosoph der Neuen Musik davon nichts hören wollen, als er „die auftrumpfende Dürftigkeit Benjamin Brittens“ dem „Allerweltstil nach dem zweiten Krieg“ subsumierte und diesen als „Eklektizismus des Zerbrochenen“ charakterisierte – ohne zu fragen, was denn da zu Bruch gegangen?

Zu Beginn des zweiten Akts von Brittens Kammeroper „The Turn of the Screw“ von 1954 singen die beiden Ghosts Quint und Jessel den merkwürdigen Satz: „The ceremony of innocence is drowned.“ Er ist dem Gedicht „The Second Coming“, was die Wiederkunft Christi meint, von William Butler Yeats entnommen. Die Zeremonie der Unschuld geht zu Grund, weil den Besten jeder Glauben fehlt, während die Schlechtesten vor Energie strotzen.

So kann der Schlechte über den Guten siegen und das Schlechte durch den Guten. Captain Vere muß an dem Vortoppmann Billy Budd die Rache seines Konkurrenten, des Master-at-arms Claggart, vollziehen, Anmut, Schönheit, Tugend zerstören, die er doch bewahren wollte, die Gouvernante den Jungen Miles zu Tode retten, Aschenbach hilflos der Demütigung Tadzios zusehen, ohne ihm zu Hilfe kommen zu können. Schuldlos schuldig sind Brittens Opernfiguren alle.

Aber nicht nur das Anziehen der Schraube weiß Britten suggestiv zu komponieren, sondern auch Trost und Tröstung, die nicht von dieser Welt sind. Und gelingendes Entkommen, bevor die Schraube festsitzt, in die nächtliche Ausschweifung, bei der man schon mal einen Tugendpreis durchbringen kann, in den Wald des Sommernachtstraums oder in die Unschuldswelt des Kindes. Wo Britten sie herzustellen sucht, etwa in den musikpädagogisch intendierten Werken, allen voran der unverwüstliche „Orchesterführer für junge Leute“ von 1945, in „Wir machen eine Oper“ mitsamt der gemachten Oper „Der kleine Schornsteinfeger“ von 1949, in den Kinderopern und Kirchenparabeln, da gerät ihm seine Musik reichlich kunstgewerblich. Aber wenn er für die Stimme von Peter Pears komponiert, in den Vokalzyklen – ein Schlüsselwerk ist die Serenade für Tenor, Horn und Streicher von 1943 –, in den Canticles und in den Liedern auf Texte „dunkler“ Dichter, darunter auch deutscher, da gibt sie vergangener und gegenwärtiger Qual authentischen Ausdruck.

Am 30. Mai 1962 wird die neue Kathedrale von Coventry mit einer Komposition Brittens eingeweiht. Die berühmte gotische Kathedrale der Stadt war bei dem deutschen Bombenangriff von 1940 zerstört worden. Das „War Requiem“ ist eines der Gipfelwerke der Gattung im 20. Jahrhundert und in der Bitte um äußeren und inneren Frieden im Beethovenschen Sinne intimstes Bekenntnis im Gewand des offiziösen Auftragswerks.

Für die drei Vokalparts waren Peter Pears, Dietrich Fischer-Dieskau und Galina Vishnevskaya vorgesehen, Sänger dreier am Zweiten Weltkrieg beteiligter Nationen, Sänger aus den Landschaften Purcells, Mahlers und Schostakowitschs. Da Vishnevskaya von der stalinistischen Kulturbürokratie keine Ausreisegenehmigung erhalten hatte, übernahm in der Uraufführung Heather Harper den Sopranpart, erst für die Schallplatteneinspielung ging Brittens Besetzungswunsch zur Gänze in Erfüllung. Nach Deutschland hat sein Opus magnum über Dresden gefunden, der Partnerstadt Coventrys, wo es zuerst Kurt Sanderling zum 20. Jahrestag des alliierten Bombenterrors dirigierte.

Benjamin Brittens Werk zählt zu meistaufgeführten des vorigen Jahrhunderts. Es hat den ihm zustehenden Platz im Opern- und Konzertrepertoire eingenommen, ohne ihn sich lauthals erobern zu müssen, gibt ihn nicht frei, aber teilt ihn gern. Erst vor dem biographischen Hintergrund des Komponisten erschließen sich seine tieferen Schichten und kann es adäquat gehört werden als Abbreviatur der gescheiterten europäischen Aufklärung, gescheitert an ihren Außenseitern. Es gilt das Motto der „Illuminationen“, 1939 auf Texte Rimbauds komponiert, daß nur das Ich allein den Schlüssel zu den wilden Ereignissen besitzt, sei es das Ich des Dichters, des Komponisten oder vielleicht auch nur das lyrische Ich allein. Den Gebrauch des Schlüssels müssen wir üben.

Benjamin Britten, War Requiem Warner Classics 2013www.emiclassics.com  

Foto: Benjamin Britten (1913–1976): „Think of all the music written Before the birth of Benjamin Britten. And then – Think of Ben.“ Vers eines Besuchers des Aldeburgh-Festivals für das Gästebuch des englischen Komponisten

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