© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Dorn im Auge
Christian Dorn

Während Altbundespräsident Christian Wulff, der Amtsvorgänger von Joachim Gauck, sich vor dem Landgericht Hannover in bewährter Manier – eloquent und angriffslustig – verteidigt, findet auch Gauck zurück zur authentischen Rede. Im Großen Saal des Schlosses Bellevue, in dem Wulff unter Blitzlichtgewitter seinen Rücktritt erklärt hatte, erläutert sein Nachfolger der „dritten Generation Ost“, soweit dies in wenigen Worten möglich ist, was es mit Diktatur und Schweigen, mit der „transgenerationellen Prägung“ auf sich hat. Beim anschließenden Empfang, im Gespräch mit dem Bundespräsidenten, dem ich diesmal gern gesagt hätte, daß diese Rede im Unterschied zu seinen sonstigen endlich wieder einen authentischen Bundespräsidenten gezeigt habe, tritt ein Mitarbeiter der Bundespräsidialverwaltung dazwischen und zwingt mich, augenblicklich die Versammlung zu verlassen. – Freiheit ist wirklich die einzige, die zählt.

Die Deutsche Gesellschaft e.V. hat zu einer Literaturtagung über „die Kinder der Friedlichen Revolution“ geladen, doch auch hier wird nur von der „Wende“ gesprochen, wie schon bei der Podiumsdiskussion im Schloß Bellevue, damit anzeigend: der Sozialismus siegt. Geht dieser Begriff doch auf Egon Krenz zurück, der damit die Konterrevolution des SED-Parteiapparates einleiten wollte. Der Autor Lutz Rathenow, heute Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen im Land Sachsen, hat sich seine Renitenz gegenüber jeder Ideologie bewahrt. Dem verdutzten Publikum erklärt er: „Wenn Sie was für eine Minderheit tun wollen: Lernen Sie Niedersorbisch!“ Mit Blick auf den bevorstehenden 25. Jahrestag des Mauerfalls, die Herbstdemonstrationen in Leipzig und die unglaubwürdige familiäre Verdichtung in dem Roman „Nikolaikirche“ des gleichwohl verehrten Erich Loest verweist Rathenow auf Christopher Clark: „So wird Leipzig noch einmal (neu) erklärt werden müssen – wie beim Buch über den Ersten Weltkrieg, ‘Schlafwandler’, da wird deutlich, niemand wollte den Weltkrieg.“ Das Publikum ist augenscheinlich zu perplex, um zu protestieren.

Zu dieser Neuerzählung könnte, Erich Loest hatte darauf bei der Verleihung des Hohenschönhausen-Preises lakonisch hingewiesen, die satirische Novelle „Hans und Bärbel“ seines vorletzen Erzählbandes „Sechs Eichen bei Rötha“ beitragen. Darin schildert er, wie Modrow und Bohley einen geheimen Sicherheitspakt schlossen, der vorsah, das MfS zu opfern, um die SED zu retten. Wer behält am Ende recht: die Literatur oder doch die Partei?

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen