© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Frankreich I: Es spricht viel dafür, daß in Frankreich die schwere Infektion zuerst zum Ausbruch kommt, die alle Nationen Europas befallen hat. Zugleich erkennt man die Unwirksamkeit der Placebos, die dem Land seit Jahren verabreicht werden: weder der Appell an die grandeur noch der Rekurs auf die Republik, weder das „Bereichert euch!“ noch der Sozialismus in den Farben der Trikolore, weder die Propaganda für die Vielfalt noch der massive Einsatz der Staatsgewalt gegen Homo-, Xeno-, Islamophobie haben irgend etwas bewirkt. Der kranke Mann an der Seine leidet psychosomatisch, an Körper wie Seele, und das in einem Maß, daß demnächst gewiß Radikalkuren vorgeschlagen oder Formulierungen für den Totenschein des Siechen diskutiert werden.

Beim Gang durch die Neubausiedlung wie über den Friedhof, immer dasselbe Empfinden: Individualität wird überschätzt.

Die Ausstellung „The American Way“ im Bonner Haus der Geschichte krankt an demselben Mangel wie jede Präsentation dieser Art, weil sie voraussetzungslos arbeitet: Nichts zur langen Geschichte der wechselseitigen Beziehungen, nichts zur deutschen Ambivalenz gegenüber dem „Amerikanismus“ seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts, nichts zu den Machtinteressen der USA beim Eintritt in den Ersten wie den Zweiten Weltkrieg, nichts zu den marodierenden GIs und nichts zum Raubzug im besetzten Feindstaat, nichts zu den Verhältnissen in den Internierungslagern, nichts zur Reeducation und ihren Folgen, nichts zur Bundesrepublik als Teil des informal empire der Amerikaner. Daß die einseitige und devote Sicht der Dinge keineswegs naturwüchsig ist, machen die Verantwortlichen allerdings auch – wenngleich ungewollt – deutlich. Denn zwecks Denunziation wurde ein westdeutscher Schulbuchtext der fünfziger Jahren ausgestellt. Der soll die Unbelehrbarkeit der Adenauerzeit illustrieren, bringt aber eben nur die einfache Wahrheit, daß die Realisierung des Morgenthau-Plans bedeutet hätte, Deutschland in einen Kartoffelacker zu verwandeln und Millionen Menschen dem Hungertod zu überantworten.

Die Nutzung von Suchmaschinen hat einen entscheidenden Nachteil: Es schwindet die Fähigkeit, Kategorien zu bilden.

Die aufwendig produzierte BBC-Serie „Die Briten“ weist viele Schwächen auf, die vor allem dem Diktat politischer Korrektheit geschuldet sind, aber zweierlei regt doch zum Nachdenken an: die konsequente Perspektive auf „das Volk“, nicht auf die „großen Männer“, und der Versuch, diese Sichtweise auch für die multikulturelle Gegenwart fruchtbar zu machen. Da gibt dann der schwarze Ex-Boxweltmeister Lennox Lewis angesichts des Sieges der Langbogener bei Agincourt, 1415, ganz selbstverständlich einen Kommentar zum Kampfgeist von „uns Briten“ ab, was vielleicht nicht nur absurd ist, sondern auch den einzigen Weg aufzeigt, zur Wiederherstellung nationaler Identität.

Stylish: der smarte Kleinwagen mit der Werbung für die Bestattungsfirma „Phönix“ – spezialisiert auf Kremierung – und einem Logo, das an ein Rauchwölkchen erinnert.

Das Scheitern von Günther Beckstein bei der Wahl zum Vorsitzenden der EKD-Synode macht wie die Aufrechterhaltung des Familienpapiers vor allem eins deutlich: daß der Anpassungs- und Kompromißkurs der „Konservativen“ in der Evangelischen Kirche nur bewirkte, daß die „Liberalen“ sie zuerst eingewickelt, dann entmachtet und schließlich abserviert haben.

„Das entscheidend Negative, das in alles hineinwirkt, ist, daß die Deutschen (und eigentlich ganz Europa) keine politischen Subjekte mehr sind, auch als solche nicht mehr fühlen, und daß dadurch dem Geistigen etwas Schattenhaftes, Unwirkliches anhaftet.“ (Theodor W. Adorno, 1949)

Zwei Nachrichten an einem Tag: die Geburtenrate hat einen neuen Tiefststand erreicht, es wird ein Gesetz vorbereitet, das die „Pille danach“ rezeptfrei zugänglich machen soll.

Frankreich II: Zu den erstaunlichen Symptomen der französischen Krise gehört die symbolische Wiedergängerei. Schon bei den Demonstrationen gegen die „Ehe für alle“ sah man staunend Jugendliche in Jeans und T-Shirt, die das alte Königsbanner mit den Lilien oder die weiße Fahne der Gegenrevolution mit dem coeur chouan, dem „Herzen Jesu“, trugen. Jetzt haben die Bretonen nicht nur ihre Nationalflagge Gwenn ha du herausgeholt, sondern sich auch rote Mützen aufgesetzt, die an die Steuerrevolte der bonnets rouges von 1675 erinnern sollen, was ihnen prompt die Kritik der Linken eintrug, die meinten, das sei die falsche Kopfbedeckung (die richtige wäre die Jakobinermütze), was die Demonstranten aber unbeeindruckt ließ.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 6. Dezember in der JF-Ausgabe 50/13.

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