© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Von der geistigen Unterwerfung des Menschen
Prophet unserer Welt: Aldous Huxleys Meisterwerk „Schöne Neue Welt“ bezeugt den treffsicheren Weitblick des Schriftstellers
Heinz-Joachim Müllenbrock

Vor fünfzig Jahren, am 22. November 1963, starb Aldous Huxley, doch ist er dank seines gegenwärtige Lebensumstände mit makabrer Treffsicherheit vorausahnenden Meisterwerks „Brave New World“ (1932) ganz und gar unser Zeitgenosse.

Huxley, geboren 1894, entstammte der intellektuellen Aristokratie Englands. Sein Urgroßvater war Thomas Arnold, der Rektor der Public School Rugby, sein Großonkel der Dichter und Kulturkritiker Matthew Arnold und sein Großvater Thomas Henry Huxley, der Popularisator Darwins. Kastenstolz als Angehöriger einer gesellschaftlichen Elite, Bildungssnobismus und naturwissenschaftliche Beschlagenheit gingen bei Huxley, der sogar mit eugenischen Experimenten liebäugelte, eine unlösbare Verbindung ein. Daß Huxley die beiden „feindlichen“ Kulturen (C. P. Snow), Geistes- und Naturwissenschaften, gewissermaßen in Personalunion verkörperte, prädestinierte ihn zum scharfsinnigen Diagnostiker unserer von der rasanten Entwicklung der Wissenschaft geprägten Welt.

Huxley, der in seinem Ideenroman „Point Counter Point“ (1928) ein ironisch überspitztes Bild der englischen Nachkriegsgesellschaft zeichnete, übte in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren als Essayist schneidende Kritik an Fehlentwicklungen der modernen Gesellschaft. Dabei weitete sich sein mit seiner sozialen Herkunft zusammenhängender Überdruß an den Tendenzen einer egalitären Demokratie und Massengesellschaft – José Ortega y Gassets „La Rebelión de las Masas“ erschien 1930 – zu einer tiefgreifenden Gesellschafts- und Kulturkritik aus.

Gleich zu Anfang des ersten Essays „The Idea of Equality“ in dem besonders aufschlußreichen Band „Proper Studies“ (1927) geißelt er den vernünftige Erziehungskonzepte vereitelnden, aber als progressiver Lockruf bis heute unentbehrlichen Wahn von der Gleichheit der Begabungen. In dem Essay „Boundaries of Utopia“ (1932) erteilt er traditionellen Fortschrittserwartungen eine Absage, weil eine auf bloß technischen Komfort ausgerichtete Lebensführung eine Erfüllung des menschlichen Glücksstrebens vereitele.

In seiner auf die Belange des ganzen Menschen gegen die Vereinnahmung durch die Maschine pochenden Zivilisationskritik trifft sich Huxley mit D. H. Lawrence in dessen Darstellung der lebensfeindlichen Einseitigkeiten der Industriegesellschaft. Huxleys persönliche Ressentiments weit hinter sich lassende Kulturkritik mündet in dem 1932 geschriebenen Essay „Economists, Scientists, and Humanists“ in die bittere Erkenntnis ein, daß die Wirtschaftsführer die eigentlichen Herrscher der modernen Welt seien und daß sie Wissenschaft und Technik immer konzentrierter aufböten, um durch die Befriedigung von antrainierten Bedürfnissen ein willfähriges Konsumverhalten zugleich ihrem Machtverlangen dienstbar zu machen.

Diese Schlüsselerklärung zur Makrostruktur der modernen Welt hat in dem satirischen Roman „Brave New World“ ihr anschauungsbildendes Pendant gefunden, in dem sich humanistisch inspirierte Kulturkritik und naturwissenschaftliches Interesse zu einem sinistren Soziogramm durchdringen. Der Weltstaat – ein ironischer Verweis auf H. G. Wells, dessen wissenschaftsgläubige und technikfreundliche Utopie „Men Like Gods“ (1923) Huxley insgesamt konterkariert – ist ein bis ins letzte durchorganisiertes System der Zwangsbeglückung. Sein Motto „Community, Identity, Stability“ pervertiert die Losung „Liberté, Egalité, Fraternité“ der Französischen Revolution, deren geistige Antriebskräfte in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Denn die künstliche Erzeugung des Menschen in den Retorten der unermüdlich arbeitenden Laboratorien hat es ermöglicht, einen in fünf streng funktionsbedingte Klassen (Alpha bis Epsilon) gestaffelten Staat zu errichten, der darauf abgestellt ist, Ungleichheit und Unfreiheit zu perpetuieren. Die genetisch standardisierten Bevölkerungsgruppen werden bereits in fötalem Zustand auf ihre jeweiligen Arbeitsbedingungen hin „konditioniert“ (das Wort ist mit Pawlow und den Behavioristen zu assoziieren); beispielsweise können durch die künstliche Sprossung eines einzelnen Eis in dem ein Höchstmaß an homogenem Verhalten garantierenden Bokanowsky-Verfahren ganze industrielle Teams erzeugt werden.

Solche Eingriffe in den Kern der menschlichen Existenz haben für die heutige Zeit, in der Klonen realisierbar geworden ist, ihren Science-fiction-Schauder verloren. Die biologische Präformierung des Menschen wird ergänzt durch Neo-Pawlowsche Reflexkonditionierung (Deltakindern etwa wird ein lebenslanger Haß auf Lesen und Naturschönheiten anerzogen, indem man ihnen beim Anblick von Büchern und Rosen elektrische Schläge versetzt) und Hypnopädie (Schlafunterricht). Die stets verfügbare, über etwaige depressive Anwandlungen hinweghelfende Droge Soma übt eine systemstabilisierende Wirkung aus (Huxley selber experimentierte mit halluzinogenen Drogen) und ist Symbol des – im Vergleich zu Orwells „Nineteen Eighty-Four“ – „weichen“ Gulag.

In Huxleys ursprünglich auf die amerikanischen Verhältnisse gemünzter Zukunftsvision nehmen wir unschwer Tendenzen unserer eigenen Zivilisation wahr, in der die biologisch-technologische Transformation des Menschen weit fortgeschritten ist. Die Bereitschaft, in der Welt von 632 nach Ford (ihrem neuen Gott) heutige Lebensformen wiederzuerkennen, ist um so aufschlußreicher, als der auf elementare Gegensätze abzielende Huxley auf eine differenzierte Charakterzeichnung verzichten konnte. Unsere Identifikationsbereitschaft wird durch strukturelle Ähnlichkeiten hervorgerufen.

Huxley schildert die Macht der allgegenwärtigen, gleichermaßen trivialen wie raffinierten Reklame in dem zu einer globalen Werbeagentur reduzierten Zukunftsstaat mit einer Anschaulichkeit, die selbst Wells’ gekonnte Darstellung in „Tono-Bungay“ (1909) weit übertrifft.

Die Automatisierung selbst privater Lebensäußerungen spiegelt die geistige Unterwerfung des Menschen unter den ökonomisch-technischen Komplex wider, der das Individuum zu einer im Wirtschaftskreislauf zurechtgeschliffenen „Sozialperson“ (A. Gehlen) ummodelt. Huxleys das Goldene Kalb der Massenproduktion anbetende Zukunftsmenschen sind mentalitätsmäßig keineswegs Lichtjahre von uns entfernt.

Huxley veranschaulicht glänzend die Prägung der Alltagssprache durch die Werbung am Beispiel der fast nur als Konsumentinnen zu Wort kommenden Weiblichkeit; großartig, wie er am Ende des siebten Kapitels anhand von Lindas ausdrucksarmer, syntaktisch schlichter, aber mit einzelnen relativ schwierigen konsumgefärbten Modewörtern durchsetzter Alltagsrede die Herabstufung des Menschen zu einem Objekt der Reklame vorführt. Es ist amüsant, Lindas Geplapper in der Redeweise heutiger konsumfreudiger Zeitgenossinnen wiederzuentdecken.

Oberflächlichkeit ist das Markenzeichen einer Welt, in der die zu Konsumenten degradierten Menschen ein Leben führen, das sich in einer entproblematisierten, läppischen Vergnügungen gewidmeten Gegenwart ohne jegliche Tiefendimension abspielt – „History is bunk“ (Quatsch) lautet das von Ford geprägte Motto für die von den Machthabern verordnete geistige Eindimensionalität. Für die Beschränkung des Lebensgefühls auf das bloße Jetzt lieferte das Amerika seiner Zeit Huxley reiches Studienmaterial.

Gerade in der Vorausahnung mentalitätsgeschichtlicher Wandlungen ist Huxley zum Seismographen heutigen Lebensstils geworden. Das hedonistische Menschen- und Weltbild unserer Tage ist in „Brave New World“ deutlich vorgezeichnet. Die Menschen geben sich den narkotischen Reizen der in großem Maßstab organisierten Vergnügungsindustrie hin, die durch die Technisierung selbst der Freizeit das tief verwurzelte menschliche Bedürfnis nach Kreativität untergräbt. Die Existenz in Huxleys Zukunftswelt ist durch die systematische Austreibung aller den Menschen in seinen höheren Anlagen fördernden Tätigkeiten gekennzeichnet. Zirkushafte und infantile Züge, wie sie die „feelies“ (Fühlfilme) in sich vereinen, drücken dem von Surrogaten „erfüllten“ Dasein dieser Menschen ihren Stempel auf.

Diese Lifestyle-Skizze könnte fast ebensogut auf unsere eigene Zeit oder zumindest auf die sich heute bereits für morgen und übermorgen abzeichnenden Tendenzen gemünzt sein. Huxley sah schon 1958 in „Brave New World Revisited“ seine düsteren Prognosen in vielem der Wirklichkeit näherkommen. Die Geistesverfassung der Bewohner der schönen neuen Welt droht bald die unsere zu werden, sind doch die Fluchtpunkte künftiger Entwicklung absehbar. Huxleys von fernöstlicher Mystik beeinflußte Hoffnungen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, haben, wie zuletzt in dem eskapistischen Roman „Island“ (1962), keinen überzeugenden Ausweg aus dem in seiner Antiutopie beschriebenen Dilemma weisen können.

Als Satiriker durfte Huxley sich mit der genretypischen Konzentration auf das Negative zufriedengeben. Zwar bot er mit der Kontrastwelt des in einem Reservat aufgewachsenen romantisch-neurotischen Wilden keine realistische gesellschaftliche Alternative an, doch der anachronistische Individualismus dieser zu rein demonstrativen Zwecken geschaffenen Kunstfigur reichte aus, um die Defizite der schönen neuen Welt grell zu beleuchten.

Die gerade in ihrer naiven Arglosigkeit wirkungsvollen Shakespeare-Zitate des Wilden erfüllen durchaus die ihnen von Huxley zugedachte Funktion eines kontrapunktischen ironischen Kontrastes mit der modernen Zivilisation. Theodor W. Adornos Kritik „Die Menschheit hat nicht zwischen totalitärem Weltstaat und Individualismus zu wählen“ wird deshalb Huxleys literarischer Konzeption nicht gerecht. Die Negativität sich abzeichnender Tendenzen, nicht ein ausbalancierter Entwurf einschließlich eines alternativen positiven Szenarios, war Huxleys Darstellungsziel in seiner satirischen Blaupause.

Mag Huxley auch in manchen Werken den spielerischen Unernst der aristokratischen englischen Bildungstradition hervorgekehrt haben, „Brave New World“ ist trotz aller gattungstypischen Kapriolen – wie Swifts Satiren – ein Werk von hohem Ernst. Es bezeugt den tief- und weitblickenden Intellekt seines Autors. Die geistige Souveränität Huxleys belegt nichts eindrucksvoller als ein Passus im Vorwort zur Ausgabe von 1946, in dem er kritisiert, daß die Times während des Ersten Weltkrieges dem Brief des für einen Kompromiß eintretenden Marquess of Lansdowne, des früheren Außenministers, den Abdruck verweigert habe. Die Folge dieser bornierten Radikalisierung seien das Aufkommen der Diktaturen und der Untergang Europas gewesen. Läßt sich das in „Brave New World“ an den Horizont der Zukunft geschriebene Menetekel noch aufhalten?

Der Kölner Kardinal Höffner bezog sich schon 1978, als er vor der Bedrohung der Würde des Menschen durch chemische, medikamentöse und chirurgische Manipulation warnte, auf Huxleys Antiutopie. Inzwischen ist das Identifikationspotential mit der in „Brave New World“ geübten Kritik an der westlichen Zivilisation auf allen Ebenen noch viel größer geworden. Den Preis für Fortschritt, den die nichtsahnenden Bewohner von Huxleys Zukunftswelt entrichten, zahlen auch wir. Das Buch ist ein Schlüsselwerk zum Verständnis unserer geistigen Situation.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock, Jahrgang 1938, ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.

Aldous Huxley: Schöne neue Welt. Roman, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011, broschiert, 272 Seiten, 8 Euro

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