© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

Der Nebel lichtet sich
„Fall Gurlitt“: Viele Behauptungen über den angeblich versteckten „Nazi-Schatz“ halten einer kritischen Überprüfung der Fakten nicht stand
Sebastian Henning

Die Berichterstattung über die Augsburger Bilderbeschlagnahme hat eine Wendung erhalten. Die Vorstellung von einer verwahrlosten Rentnerwohnung, in welcher der Inhalt mehrerer Kunstmuseen zwischen schmutziger Wäsche und ungespülten Tellern vergammelt, mußte korrigiert werden. Und die Vox populi der Online-Kommentare spiegelt ein intuitives Empfinden der Unangemessenheit des Vorgehens wider.

Eine Wortmeldung von vielen ähnlichen stellt fest: „Gurlitt pflegte nun mal einen zurückgezogenen und kontaktscheuen Lebenswandel, war vielleicht überhaupt ein etwas altmodischer Kauz. Nur, wen geht das was an? Wer hat das Recht, sich darüber auszubreiten?“ Grundsätzlich ist eine Privatwohnung nämlich kein Versteck. Sobald aber ihr Inneres in aller Öffentlichkeit ausgestülpt ist, wird sie zu einem, in dem der frühere Bewohner zeitweilig einen Blickschutz vor den Fotografen findet, die seine Haustüre belagern.

Nun, da sich die Unrechtmäßigkeit deutlicher abzeichnet, wird Gurlitt zur Sanktionierung des Raubes an seinem Besitz durch dessen nachträgliche Auslieferung aufgefordert. Lobbygruppen drücken auf die Regierung, die auf das Individuum weiterdrückt.

Eine „Task-Force“ wurde gegründet. Deren Leiterin Ingeborg Berggreen-Merkel findet immerhin ein Treffen mit dem Kunstsammler aus Gründen der „Höflichkeit und Fairneß“ ebenso erforderlich, wie „in alle Richtungen zu ermitteln, also auch zugunsten des Beschuldigten“. Das läßt sich hören.

Der bayerische Justizminister Winfried Bausback (CSU) ahnt indes dunkel, daß sich das Vorgehen seiner Untergebenen in keiner Weise rechtfertigen läßt. Mit der Aufhebung der Verjährung wäre zugleich dieser Verlegenheit gesteuert: „Es wäre für mich schwer erträglich, wenn man Rückgabeforderungen der Eigentümer nun entgegenhalten würde, daß ihre Ansprüche verjährt sind.“ Ein Achtzigjähriger hat es aber nicht mehr nötig, sich erpressen zu lassen. Was soll er noch befürchten? Verständlicherweise ist er nicht bereit, die Familienehre einer Gesichtswahrung der Staatsanwaltschaft zum Opfer zu bringen. Zwischen Kunstobjekten, welche unter Repressionen unbillig ihren Eigentümern entwendet wurden, und denen aus der Kampagne gegen die sogenannte „Entartete Kunst“ wurde in den Berichten selten unterschieden. Mit dieser Vernebelung wird neues Unrecht gegen Privatpersonen sanktioniert.

Ein absoluter Fauxpas war die Auflistung von 25 Werken aus dem Besitz, den Gurlitt von seinen Eltern erbte, in der öffentlich zugänglichen Datenbank der verlorenen Kunstwerke. Darunter befinden sich eine Radierung von Canaletto, Zeichnungen von Spitzweg, Delacroix und Rodin, Gemälde von Daumier, Matisse und Liebermann.

Weit über die Hälfte der Stichprobe und damit der gesamte Anteil deutscher Kunst der Moderne stammt jedoch von Dresdner Künstlern, die Hildebrandt Gurlitt, der Vater des heutigen Besitzers, persönlich gekannt und gefördert hat.

Das Selbstvermarktungs-Genie Otto Dix ragt als einziger weithin bekannter Name heraus, daneben noch Conrad Felixmüller. Doch Ludwig Godenschweg, Wilhelm Lachnit, Christoph Voll, Otto Griebel, Bernhard Kretzschmar und Hans Christoph waren nicht minder bedeutend.

 

Raubkunst

Während der Begriff „Beutekunst“ vor allem auf „kriegsbedingt verbrachte und verlagerte Kulturgüter“ angewendet wird, versteht man unter „Raubkunst“ alle während der nationalsozialistischen Diktatur „verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgüter“. Dies betrifft alle Kunstobjekte und Immobilien, die im oder vor dem Zweiten Weltkrieg „unrechtmäßig oder auf moralisch fragwürdige Weise von Nationalsozialisten erworben wurden (dienstlich oder ‘privat’) und deren Vorbesitzer ausnahmslos Verfolgte des Regimes (zumeist Juden) waren“. Für die Erforschung und Feststellung der rechtmäßigen Besitzverhältnisse zuständig ist die Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg.

www.lostart.de

Kommentar Seite 2

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