© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

Thalers Streifzüge

Beschrankte Bahnübergänge gibt es in einer Großstadt wie Berlin nur wenige; S-Bahn und Fernbahn zusammengenommen sollen es weniger als dreißig sein. Ich wohne in unmittelbarer Nähe einer dieser beschrankten Bahnübergänge. Alle zwanzig Minuten ertönt dort ein akustisches und optisches Warnsignal, dann gehen die Schranken herunter, und wenig später donnern zwei S-Bahnen in entgegengesetzter Fahrtrichtung vorbei. So sieht es der Bahnfahrplan vor. Meine Wirklichkeit ist eine andere. In Wahrheit brausen die Züge immer dann heran, wenn ich gerade den Bahnübergang überqueren will. Irgendwie müssen die Bahnverantwortlichen wissen, wann ich dort entlanglaufe. Wie sie das anstellen, ist mir allerdings ein Rätsel.

Die Bundespolizeidirektion Berlin teilt mit: Am Montag voriger Woche postierten sich an meinem Bahnübergang Polizeibeamte, um ihn zu überwachen. Von 7 bis 9 Uhr mußten sie „dutzende Fußgänger ansprechen, weil sie den Bahnübergang während des Schließvorgangs der Schranke überquerten“. Die meisten der Angesprochenen, darunter Schüler von drei nahe gelegenen Schulen, hätten als Ausrede „Termindruck“ genannt. Sie seien von der Polizei belehrt worden. Gegen elf Erwachsene leiteten die Beamten Bußgeldverfahren jeweils wegen Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung ein, da die Betroffenen die Wartepflichten vor einem Bahnübergang verletzt hatten. Ich gehörte nicht dazu. Der Bußgeldkatalog sieht eine Strafe von 350 Euro vor.

Inzwischen habe ich gelernt, mich nicht mehr darüber zu ärgern, daß die Bahnschranken immer genau dann heruntergehen, wenn ich den Übergang kreuzen will. Statt dessen entschleunige ich jetzt bewußt. Hektik und Streß gibt es überall genug. Einfach mal minutenlang zum Nichtstun verdammt zu sein, so habe ich beschlossen, bedeutet einen Zugewinn an Lebensqualität. Nur mit zwei vollgepackten Einkaufstaschen rechts und links in der Hand ist Entschleunigen immer noch eine Prüfung.

Während des Wartens fliegen die Gedanken frei umher. Zum Beispiel in diese Richtung: Seit wann haben Schüler „Termindruck“, wenn sie auf dem Weg zur Schule sind? Haben die Kids denn noch nichts von Entschleunigung gehört? Kaum vorstellbar eigentlich, die gab es doch schon immer. Früher hieß es nur anders, wir nannten es Bummelei oder Herumtrödeln. Das Prinzip ist das gleiche. Die Schüler müssen wirklich noch viel lernen.

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