© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

Aus der Heimat in ein Barackenlager
Gnadenkirche Tidofeld in Ostfriesland: Eine neue Dokumentationsstätte zur Aufnahme von Vertriebenen
Erika Schmelzle

Die Flüchtlinge und Vertriebenen kamen nach Kriegsende vorwiegend aus Schlesien und Pommern. Eine Eisenbahnverbindung führte sie bis ins ostfriesische Norden, dem letzten Haltepunkt vor der Nordsee. Dort wurden sie in über 20 Baracken eines ehemaligen Marinelagers untergebracht. Nach den schlimmen Erlebnissen von Flucht und Vertreibung fanden die Ankommenden dort im Lager ihre erste Unterkunft, die zum Teil bis 1960 ihr Zuhause wurde. Es war eines der größten Barackenlager in Nordwestdeutschland.

Unter den Bewohnern entstand aufgrund der gemeinsamen leidvollen Erfahrung ein starker Zusammenhalt. Es gab im Barackenlager Gründungen von Geschäften, Handwerksbetrieben und einer Gaststätte. Sogar eine Lagerschule sorgte für geregelten Unterricht. Eine von beiden Konfessionen genutzte Barackenkirche förderte die Gemeinschaft. Wohnungsprogramme und der Neubau von Siedlungshäusern in Tidofeld führten zum Abriß der Baracken.

An diese Zeit erinnert jetzt eine neue Dauerausstellung. Zu sehen ist sie nach achtjähriger Vorbereitungszeit in der Gnadenkirche Tidofeld in der dort eingerichteten „Dokumentationsstätte zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Nieder-sachsen und Nordwestdeutschland“. So hat die aufgelassene Kirche aus Backstein, die auf dem Platz der ehemaligen Barackenlagerkirche 1961 erbaut worden war, eine neue sinnvolle Verwendung gefunden.

Ein Modell des ursprünglichen Barackenlagers kann in der jetzigen Ausstellung durch Berührung einer Skizze an den einzelnen Punkten beleuchtet werden. Das Modell soll durch ein Adressenverzeichnis der damaligen Bewohner ergänzt werden.

Die Schau verdeutlicht die schwere Zeit der Aufnahme der Vertriebenen. Die sonst in ostdeutschen Heimatstuben üblichen Exponate, die die Flucht überstanden, werden in der Dokumentationsstätte von den Vertriebenen zusätzlich erläutert. Auf zahlreichen Bildschirmen können die Besucher 60 verschiedene Zeitzeugeninterviews abrufen, die zu den Exponaten in Verbindung stehen. Dazu gehört unter anderem ein Fluchthandwagen. Er wurde im Rahmen eines Projektes von einer Schulklasse restauriert und bei einer sechs Kilometer langen Wanderung bei Eis und Schnee mit „Fluchtgepäck“ über Land gezogen. So wollten die Schüler die damaligen Erfahrungen ansatzweise nachempfinden.

Verschiedene Filme über den Alltag der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Nachkriegszeit, zum Beispiel der Aufbau des Flüchtlingsortes Espelkamp, können auf einem großen Bildschirm verfolgt werden. Zusätzlich gibt es auf dem Fußboden wechselnde Projektionen aus dieser Zeit. Ein Wandfries mit Ausschnitten, Daten und Hintergründen ermöglicht eine zeitgeschichtliche Einordnung.

Träger des Projekts ist der gemeinnützige Verein Gnadenkirche Tidofeld unter dem Vorsitz von Helmut Kirschstein, Superintendent des Ev.-luth. Kirchenkreises Norden, und gleich zwei Schirmherren: dem geistlichen mit Landesbischof Ralf Meister und einem „gesellschaftspolitischen“ mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten.

Neben dem Erhalt der seit 2008 unter Denkmalschutz stehenden Gnadenkirche Tidofeld und der Ausstellung zur Geschichte der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Region engagiert sich der Verein unter anderem auch in der Förderung internationaler Jugendbegegnungen.

Die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld in Norden, Donaustr. 1, ist täglich außer montags von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 3 Euro, für Kinder über sechs Jahren 2 Euro. Gruppen und Schulklassen sind nach vorheriger Anmeldung auch vormittags und abends willkommen. Telefon: 049 31 / 18 97 60.

www.kirchenkreis-norden.de

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