© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

„Endlich darüber sprechen können“
Symposion in Gleiwitz füllt Leerstelle: Die Politik des kommunistischen Polen gegenüber den Deutschen
Christian Rudolf

Daß Polen sich den häßlichen Aspekten seiner jüngeren Geschichte stellt, ist selten. Um so mehr läßt eine Tagung aufhorchen, die den Umgang der „kommunistischen Behörden“ mit der „deutschen Bevölkerung in Polen 1945 – 1989“ zum Gegenstand hatte. Sie hätte unter dem Postulat eines Wegbereiters der deutsch-polnischen Verständigung, des Literaturkritikers Jan Józef Lipski stehen können: „Wir müssen uns alles sagen unter der Bedingung, daß jeder über seine eigene Schuld spricht.“ Über 50 Wissenschaftler zumeist polnischer Universitäten strömten Ende vergangener Woche im oberschlesischen Gleiwitz zusammen, um eine Bringschuld gegenüber der Öffentlichkeit zu erfüllen: In den Rundtischgesprächen, die dem 20. Jahrestag des Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrags von 1991 vorausgingen, war vereinbart worden, die „undemokratischen Praktiken der Volksrepublik Polen gegenüber polnischen Bürgern deutscher Nationalität (...) während der kommunistischen Herrschaft“ wissenschaftlich zu analysieren („Gemeinsame Erklärung“ vom 12. Juni 2011). Dafür ist keine polnische Stelle besser geeignet als das mit der Stasiunterlagenbehörde vergleichbare Institut für Nationales Gedenken (IPN), aus dessen Reihen auch die meisten Forscher stammten.

Die Ergebnisse der breit angelegten Arbeiten waren mehr als abendfüllend: Zwei volle Tage währte die vom IPN organisierte Konferenz im restaurierten Kontrollgebäude der stillgelegten Gleiwitzer Grube, und doch mußte Piotr Madajczyk von der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Warschau) am Ende die These bestätigen, die er eingangs aufgestellt hatte: Daß im Wissen über die Deutschen in der Republik Polen „ein „riesiges Loch“ klaffe und „mehr Fragen als Antworten“ blieben.

Die in Referaten vorgestellte Themenvielfalt zeigte, wie ergiebig das Forschungsfeld ist, das jahrzehntelang durch Nichtbeachtung brachlag, und wie nötig es ist, sich auszutauschen über einen Aspekt der Zeitgeschichte, der noch vor 25 Jahren nach polnischer Lesart nicht existieren durfte. Das Kaleidoskop reichte von den Vertreibungen über die Nachkriegsrepressionen, Terror und Tod in den Arbeits- und Abschiebelagern, Aussiedlungswellen in die Bundesrepublik und die DDR, die Problematik schwebenden Volkstums in Oberschlesien und Masuren – „Autochthone“, „Hiesige“, „Schlonsaken“ –, den Einfluß der Blockpolitik auf die Behandlung der deutschen Volksgruppe bis hin zu Fallstudien über die Motivation der Funktionäre, die die Entdeutschung durchsetzten.

Katarzyna Friedla (Basel) berichtete vom „Stigma der Zugehörigkeit“ am Beispiel der wenigen überlebenden deutschen Juden von Breslau, die sich unterschiedslos als Deutsche behandelt sahen. Vor Vergewaltigungen durch Rotarmisten suchten sich manche Jüdinnen durch Rezitieren hebräischer Gedichte und Gebete zu schützen – mit mäßigem Erfolg. Die sich neu organisierenden polnischen Juden forderten von den deutschen unbedingte Unterordnung, und nach Zeugnis der Quellen feierten polnische und deutsche Juden ab September 1945 den Sabbat getrennt.

Małgorzata Świder (Oppeln) schilderte detailliert, was von den ersten Tagen der polnischen Verwaltung an die systematische Entgermanisierung („odniemczanie“) im Oppelner Schlesien bedeutete. Bereits am 29. Januar 1945 befahl der kommunistische polnische General Aleksander Zawadzki ein vollständiges Verbot der deutschen Sprache – das bis 1989 galt. Deutsche Straßen-, Flur- und Städtenamen, Schilder und Reklameschriften an Häusern und Geschäften, Aufschriften in Treppenhäusern und Kellern, Gravuren in Gräbern, Wegkreuzen, Kirchen und Kapellen, deutsche Denkmäler, Bücher und Zeitungen – Zeugnisse der Deutschen wurden mit Furor übermalt, ausgemeißelt, verbrannt. Polnische Milizen drangen in Wohnungen ein und zerschlugen Geschirr mit deutschen Aufschriften. „Es ging bis hin zu der grotesken Anordnung an Neusiedler aus Zentralpolen, deutsche Gebräuche nicht zu übernehmen“, so Świder. Darunter fiel die Verdrängung von Geburtstagsfeiern zugunsten von Feiern des Namenstags.

Unter den anwesenden Wissenschaftlern waren verschiedene Standpunkte und Bruchlinien erkennbar. Madajczyk unterstellte der deutschen Volksgruppe in Polen „starke nationalistische Tendenzen“, machte in den westdeutschen Landsmannschaften „deutschen Nationalismus“ aus und beklagte die „Mythologisierung gewisser Begriffe wie ‘Vertreibung’ oder ‘Lager’“. Claudia Schneider (Halle) bezeichnete die Aussiedler in die DDR als „Migranten“ und wollte „äußerste Vorsicht beim Begriff des Deutschen“ walten lassen („Stabile Identität kann man nicht zuschreiben“), was zu einer verwunderten Nachfrage aus dem Publikum führte, ob diese These eine allgemeine Strömung in Deutschland sei. Stanisław Jankowiak (Posen) verwarf den „Unsinn“, die deutschen Ostgebiete als „Piasten-Gebiete“ oder „wiedergewonnene Gebiete“ zu bezeichnen, wie es bis heute in Wissenschaft und Publizistik geschieht: „Stettin habe 700 Jahre auf die Rückkehr zum Mutterland gewartet? Das klingt doch lächerlich!“ Eindringlich mahnte er, „endlich gemeinsame Begrifflichkeiten“ zu finden: „Wir sollten das, was sich 1945 abspielte, auch Vertreibung nennen, denn das war es.“

Dem einzigen deutschen Sejm-Abgeordneten Richard Galla (JF 46/06) war die Erleichterung anzumerken, als er zur Eröffnung sagte, daß man „heute offiziell darüber sprechen“ könne, was jahrelang nur Erfahrung im privaten Kreis bleiben durfte. Der Vorsitzende des Verbandes der Deutschen Minderheit in Polen (VdG), Bernard Gaida, der die Konferenz mitgestaltete, sagte der JUNGEN FREIHEIT, eine Tagung über solch ein Thema sei „etwas völlig Neues“: „In der Volksrepublik existierten außer in Breslau und Waldenburg die Deutschen ja nicht, also war auch nichts zu erforschen.“ Aber: „Ohne Kennenlernen kann es keine Akzeptanz geben.“

Foto: Grenzinstallation am Ostseeufer zwischen Ahlbeck und Swinemünde: „Riesiges Loch“ im Wissen um die Deutschen jenseits von Oder und Neiße

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen