© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Generationenvertrag auf der Kippe
Nach uns die Sintflut
Konrad Adam

Wer mit offenen Augen über die Plätze und durch die Straßen deutscher Städte geht, der erkennt auf den ersten Blick: die Zahl der Rollatoren nimmt ständig zu, die der Kinderwagen ebenso beharrlich ab. Deutschland wird älter, langsamer, umständlicher, grämlicher, hinfälliger, pflegebedürftiger und kränker. Um es mit jenem Satz zu sagen, den Thilo Sarrazin dafür gefunden hat: Deutschland ist dabei, sich abzuschaffen.

Das Land hat allerdings Politiker, die den Ernst der Lage erkannt haben und die Antwort kennen. Nicht alle sind dabei so ehrlich wie die frühere SPD-Familienministerin Renate Schmidt, die, auf die Überalterung des Landes angesprochen, frei heraus bekannte, ihr sei es zunächst einmal „wurscht“, ob die Deutschen ausstürben oder nicht: die klare Antwort einer Politikerin, die ihr Amt hinter sich und einen bequemen Lebensabend vor sich hat.

Angela Merkel ist raffinierter, sie kennt die Möglichkeiten des leerlaufenden Event-Betriebs und macht sie sich zunutze. Deswegen nimmt sie, statt sich so klar zu äußern wie Renate Schmidt, den Umweg über einen Kongreß, auf dem der demographische Niedergang zunächst einmal in einen demographischen Wandel umgedeutet wird. Um diesen Wandel dann, sprachlich neutralisiert, nicht etwa als Gefahr, sondern als Chance darzustellen.

Auf sich bezogen, hat Angela Merkel damit wohl auch recht. Sie denkt wie Norbert Blüm, der ja nicht irgendwelche, sondern seine eigenen, höchst persönlichen Ruhestandsbezüge im Auge hatte, als er dem staunenden Volk mitteilte: Eines sei sicher, die Rente. Was damals nur für wenige erkennbar war, weiß heute jedes Kind: daß das eine der schamlosesten Lügen war, die jemals von einem verantwortlich genannten Politiker verbreitet worden ist. Wenn irgend jemand, dann kannte Blüm die Zahlen, die von immer mehr alten und immer weniger jungen Leuten berichteten. Er wußte oder konnte wissen, was daraus für die Zukunft folgte.

Unsere Berufspolitiker haben die Altersversorgung nach dem Muster des Ständestaates eingerichtet: sie oben, die anderen unten. Die sogenannten Volksvertreter haben sich Vorrechte angemaßt, die sie vom Volk, dem großen Lümmel, immer weiter entfernen. Sie genießen Steuervorteile, die sie von jenen Lasten befreien, mit denen sie unsereinem das Leben verdrießlich und beschwerlich machen. Das Wertvollste dieser Privilegien ist eine exzellente Altersversorgung, zu der sie, anders als wir, das dumme Volk, keinen eigenen Beitrag zahlen müssen.

Privilegien werden verteidigt, auch von Angela Merkel. Auf die Frage, ob sie es nicht bedauerlich finde, daß die Politiker die Bürger ständig zu mehr Eigenbeteiligung aufriefen, selbst allerdings in das Sozialsystem nichts einzahlen wollten, entgegnete sie kurz und bündig, das sei eine „populistische Frage, die überhaupt nicht weiterführt“. Natürlich führt sie weiter, nur eben nicht dorthin, wo die politische Klasse hin will. Womit nun endlich, sogar aus allerhöchstem Munde, die langersehnte Definition des Wortes „populistisch“ vorläge: Populismus ist das, was das Volk will, seine Vertreter aber nicht.

Rund zwei Jahrzehnte ist es her, daß eine Mutter, die neun Kinder geboren und großgezogen hatte, vor das Bundesverfassungsgericht zog, um dort Gerechtigkeit für sich und ihre Kinder einzuklagen. Sie hatte ihre Sache gut gemacht, denn alle Kinder waren im Beruf erfolgreich. Deswegen mußten sie Monat für Monat an die siebentausend Mark an die Rentenkassen abzuführen: eine gewaltige Summe, von der ihre Mutter, Miturheberin dieses gesellschaftlichen Reichtums, aber nur ein paar hundert Mark abbekam. Der große Rest ging an die vielen, die verstanden hatten, daß man in Deutschland am besten fährt, wenn man sich von Kindern unterhalten läßt, für die man selbst nichts getan hat.

Jung sorgt für Alt, heißt die Formel, mit der die gelernten Sozialpolitiker diese Form der sozialstaatlich betriebenen Transferausbeutung umschreiben. Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit und deshalb eine ganze Lüge. Vollständig hieße die Formel: Jung sorgt für Alt, wenn und soweit Alt für Jung gesorgt hat. Nur in dieser, das Geben und das Nehmen über die Zeit ausgleichenden Gestalt, ist der Generationenvertrag gerecht und damit haltbar. Doch davon wollen die Kinderlosen, die überall in der Mehrheit und in Berlin an der Macht sind, nichts wissen.

Thomas Jefferson, einer der ersten und bedeutendsten Präsidenten der USA, soll angesichts der Willkür und der offenbaren Ungerechtigkeit, mit der seine weißen Landsleute den Schwarzen ihre elementaren Bürgerrechte vorenthielten, bekannt haben, er zittere bei dem Gedanken, daß Gott gerecht sei. Die deutschen Sozialpolitiker gleich welcher Couleur hätten allen Grund, ebenso zu zittern. Denn die nachfolgenden Generationen werden sich weigern, die ihnen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen auferlegten Lasten zu tragen. „No taxation without representation“ hieß die Devise, unter der sich die amerikanischen Revolutionäre gegen die englische Vorherrschaft erhoben. Sie könnten in Deutschland bald Nachfolger finden.

Berufspolitiker haben gelernt, ihren Zeithorizont auf die Dauer einer einzigen Legislaturperiode, maximal also fünf Jahre, zu begrenzen. Was darüber hinausliegt, interessiert sie nicht und wird, wenn überhaupt noch irgendwann und irgendwie, mit der frivolen Bemerkung beantwortet, mit der eine Mätresse Ludwigs XV. auf die Niederlage der französischen Armee in der Schlacht von Roßbach reagiert haben soll: „Nach uns die Sintflut!“

Das meint der gelernte Berufspolitiker auch. Deswegen widersetzt er sich allen Versuchen, die Empfehlung aufzugreifen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Pflegeversicherung deutlich genug ausgesprochen hat: bei der Beitragsfixierung die Existenz von Kindern nicht nur in der Pflege, sondern in allen Zweigen des sozial genannten Versicherungswesens zu berücksichtigen.

So zu verfahren hieße nicht nur, ein Gebot des Anstandes zu erfüllen und der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen; es wäre vor allem die entscheidende Voraussetzung für das Überleben des Systems. Die Lebenserfahrung genügt, um zu begreifen, daß das deutsche, im Umlageverfahren finanzierte Rentenversicherungsunwesen nicht nur auf einer, sondern auf zwei Säulen ruht: auf der Beitragskraft der aktiven und der Kopfzahl der nachwachsenden Generation. Wem das nicht reicht, kann auch das CDU-Programm zu Rate ziehen, wo er dann liest: „Die jeweils arbeitende Generation sorgt durch ihren Beitrag für die Sicherung des Einkommens der nicht mehr arbeitenden Generation und durch Kinder für den Bestand der Gemeinschaft.“

Das läßt sich zwar nur schwer bestreiten; aber was bedeutet schon eine elementare Wahrheit, wenn ihr parteipolitische Interessen in die Quere kommen? Aus den inzwischen abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen verlautete es Tag für Tag: Die Rente beruhe auf Leistung und Gegenleistung – was ja nichts anderes bedeutet, als daß diejenigen Frauen, die dafür sorgen, daß die leichtfertig zugesagten Renten auch übermorgen noch bezahlt werden können, keine Leistung erbracht und keinen Beitrag gezahlt haben, der mit mehr zu entgelten wäre als einem Hungerlohn im Alter. Hätte sich die SPD mit ihrer Forderung durchgesetzt, das Betreuungsgeld zu streichen, wäre den Müttern der letzte Rest von Anerkennung genommen worden, der ihnen bisher noch geblieben war.

Spätestens jetzt ist mit der Frage zu rechnen, ob wir denn nichts gelernt hätten aus der spezifisch deutschen Vergangenheit. Und damit klar wird, was damit gemeint ist, erinert man an das NS-Mutterkreuz und die Auschwitz-Keule vorsorglich zurechtgelegt. Was soviel heißen soll wie: Bevölkerungspolitik ist vom Übel. Um hier Klarheit zu schaffen: Die Bundesregierung betreibt Bevölkerungspolitik, seit langer Zeit und überaus wirkungsvoll sogar – nur eben nach der falschen Seite. Wer’s nicht glauben will, werfe einen Blick in die Statistik, die den Deutschen seit eh und je Bestleistungen auf dem Gebiet der generativen Enthaltsamkeit bescheinigt. Wolfang Zeidler, seinerzeit Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte dazu schon vor Jahren seinen Kommentar gegeben, als er schrieb: Angesichts der betont kinderfeindlichen Abgaben- und Sozialpolitik sei es eigentlich ein Wunder, daß sich überhaupt noch ein paar Frauen dazu bereit fänden, für die Geburt, die Aufzucht und die Bildung von Kindern Zeit und Kraft aufzuwenden. Nachzulesen im „Handbuch des Verfassungsrechts“, erschienen vor Jahrzehnten. Geändert hat sich seither nichts, im Gegenteil, die Parteien wetteifern um den Preis, Frauen, Kinder und Familien der Wirtschaft zum Opfer zu bringen.

Sollte tatsächlich einer unserer Sozialpolitiker die Absicht haben, von dieser bisher einmütig verfolgten Linie abzuweichen, könnte er nach folgender Regel verfahren: Wenn es zwei Arten von Beiträgen zur Rentenversicherung gibt, sollten beide gleichwertig beachtet werden. Das hieße dann: volle Rente nur für die diejenigen, die den Generationenvertrag in seinen beiden Teilen erfüllt, also zwei oder mehr Kinder aufgezogen haben. Bei einem Kind gäbe es nur drei Viertel, für Kinderlose, da sie den halben Beitrag schuldig geblieben sind, nur die halbe Rente.

Bevor sich nun die Lobbyisten, die Verbandsvertreter und die Parteileute zu einem sozialpolitischen Entrüstungschor zusammenschließen, darf ich die CDU-Mitglieder an ihr bereits erwähntes Programm, die SPD-Funktionäre an die Worte ihres Mitglieds Wolfgang Zeidler, die Unternehmer und Gewerkschafter an die banale Einsicht Henry Fords erinnern, daß Autos keine Autos kaufen. Mit anderen Worten: Um wirtschaftlich über die Runden zu kommen, braucht es Menschen. Und zwar nicht irgendwelche, sondern solche, die gelernt haben, verläßlich zu arbeiten, originell zu denken und verantwortlich zu handeln. Sie werden entdecken, daß der sogenannte Generationenvertrag das Muster eines Vertrages zu Lasten Dritter ist. Deswegen werden sie sich weigern, einen solchen Vertrag zu erfüllen, und alles tun, um die Sintflut, wenn sie denn kommt, über diejenigen hereinbrechen zu lassen, die sich auf einen derart törichten und ungerechten Vertrag verlassen haben. Darf man sie deshalb schelten?

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ und bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Er ist einer von drei gleichberechtigten Sprechern (Vorsitzenden) der Alternative für Deutschland. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den europäischen Einigungsprozeß („Gehört Griechenland zu Europa?“, JF 36/13).

Foto: Stilleben „Vier Alte mit Kind“: Die Deutschen glänzen mit Bestleistungen auf dem Gebiet der generativen Enthaltsamkeit

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