© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Gegen die Herren Eingeborenen
In der Zabern-Affäre bricht der Unmut in Elsaß-Lothringen gegen eine Berliner Bevormundung hervor
Dirk Wolff-Simon

Aus der schnoddrigen Unbedachtsamkeit eines zwanzigjährigen Leutnants, dem offensichtlich entgangen war, daß der elsässische Begriff des „Wackes“, was soviel wie „Taugenichts, Strolch oder Raufbold“ heißt, bereits seit 1903 qua Regimentsbefehl „strengstens“ verboten war, entsprang im Herbst 1913 im elsässischen Städtchen Zabern zunächst eine Provinzposse. Die Publizierung der unbedachten Äußerungen eines unreifen deutschen Offiziers während einer Rekruteninstruktion wären schnell in Vergessenheit geraten, wenn selbiger, aufgrund einer Verbalinjurie, nicht durch sein „schneidiges“ Verhalten mittels seines Säbels gegenüber einem körperlich behinderten Schustergesellen überreagiert und damit das Faß gänzlich zum Überlaufen gebracht hätte.

Zur nationalen Affäre von Verfassungsrang mutierten die Ereignisse durch das Handeln des deutschen Kaisers Wilhelm II. selbst, der die politische Dimension der Vorfälle im Elsaß um den Leutnant Günter Freiherr von Forstner gänzlich unterschätzte. Verfolgte er die Ereignisse zunächst aus der Distanz, so goutierte er im weiteren Ablauf die verfassungsmäßigen Übertritte des Militärs im Reichsland Elsaß-Lothringen und die angestrebte Lösung des Konflikts mittels des Kriegsrechts.

Entrückt von der Lebenswirklichkeit und den mentalen Besonderheiten in Elsaß-Lothringen ging es Wilhelm II. einzig und allein um die Wahrung der kaiserlichen Kommandogewalt und der damit verbundenen Machtbefugnisse. Mit der in Preußen verbreiteten Ansicht, daß Elsaß-Lothringen mit der 1871 erfolgten Annexion zurück ins Deutsche Reich geführt worden sei, hatte die Stimmung in dieser Region wenig zu tun. Weder eine „Anschluß“-Partei noch eine Unabhängigkeitsbewegung gegen Frankreich trat in Erscheinung. Vielmehr bekannten sich die Elsässer zu ihrer (Doppel-)Identität, die sowohl aus französischen (politisches und gesellschaftliches Verständnis) als auch deutschen Komponenten (Sprache, Kultur) bestand. Das daraus resultierende Mißtrauen, das Preußen gegenüber den südlichen Staaten hegte, führte dazu, daß Elsaß-Lothringen nicht als gleichberechtigter Bundesstaat, sondern als „Reichsland“ mit einem Statthalter in Straßburg verwaltet wurde.

Dafür, daß der Provinzskandal an der Westgrenze des Reiches seine Wellen bis in Ausland schlug und über Nacht zu einer Staatsaffäre wurde, hatte nicht zuletzt das Verhalten des politisch tölpelhaften Kronprinzen Wilhelm in dieser Affäre gesorgt. Telegrafisch spendete er den militärisch Verantwortlichen in Straßburg nicht nur kräftig Beifall, sondern feuerte sie in der ihm eigenen grobschlächtigen Rhetorik auch noch weiter an: „Bravo!“ schrieb er begeistert, und: „Immer feste druff!“ Es müsse, so der Kronprinz weiter, „ein Exempel statuiert werden, um den Herrn Eingeborenen die Lust an derartigen Vorfällen zu versalzen“.

Mit diesen Äußerungen, die durch die Indiskretion eines Telegrafenbeamten an die Öffentlichkeit kamen, goß der Kronprinz zusätzlich Öl ins Feuer und gab damit den Militärübergriffen in Zabern gleichsam eine höhere Weihe – zum Mißfallen seines Vaters, der „sehr böse“ auf die Anfeuerungen seines Sohnes reagierte und ihn kurzerhand nach Berlin in den Generalstab versetzte, „um weiteren Schaden abzuwenden“. Doch viel abzuwenden gab es ohnehin nicht mehr, größer konnte der Kollateralschaden seit der Daily-Telegraph-Affäre nicht sein.

Von den Ereignissen selbst berichteten die zentrumsnahe Tageszeitung Der Elsässer und der liberale Zaberner Anzeiger seit dem 6. November und lösten in der Bevölkerung eine Welle der Empörung aus. Wenige Tage später forderte die gesamte reichsländische Presse, von der regierungsnahen Saargemünder Zeitung bis hin zur sozialdemokratischen Freien Presse einhellig die Versetzung der Betroffenen. Besonders kritisch setzte sich die SPD-Zeitung Vorwärts mit den Ereignissen auseinander und nutzte den Zwischenfall für eine Abrechnung mit der aus ihrer Sicht bestehende Willkürherrschaft der Militärs, mit dem Militarismus und für den Einsatz der Rechte der nationalen Minderheiten im Reich.

Doch auch in den bürgerlichen Blättern wurde kritisch über die Ereignisse berichtet und deutlich gemacht, daß die Folgen der verbalen Entgleisung eines preußischen Leutnants sehr schnell begrenzt worden wären, wenn der zuständige General von Deimling hier entsprechend mit kühlem Verstand gehandelt hätte. Deutlichere Worte fand die SPD-nahe Straßburger Freie Presse gegenüber der Rolle des verantwortlichen Generals in Straßburg, indem sie skandierte: „Wir wollen keinen Säbeldiktator, der unsere Verfassung in Scherben schlägt.“

Um die Jahreswende 1913/14 nahm die Entwicklung der Ereignisse um die Zaberner Affäre einen festen Platz in der ausländischen Berichterstattung ein. Selbst in Australien (The Advertise Adelaide vom 5. Dezember 1913) und in Neuseeland, wo die Otago Daily Times in ihrer Ausgabe am 13. Januar 1914 entsprechend berichtete. Auch in der juristischen Fachpresse fand die Affäre ihren Niederschlag. Der bedeutende Staatsrechtler und Herausgeber der Deutschen Juristen-Zeitung, Gerhard Anschütz, setzte sich in der Ausgabe vom 15. Dezember 1913 kritisch mit den Ereignissen von Zabern auseinander. In der Einleitung seiner Abhandlung fragt der Autor, „ob es das Hauptorgan des deutschen Juristenstandes schweigend hinnehmen und für eine gleichgültige Sache erklären soll, daß, wie wir es erleben, von dem Kommandeur und den Offizieren des in Zabern stehenden Infanterieregiments eine Säbelherrschaft aufgetan und Recht und Gesetz mit Füßen getreten wird“.

Zabern unreflektiert als Symbol des deutschen Militarismus darzustellen, wie es manche Historiker immer wieder insinuieren, wird der historischen Bedeutung der Affäre für die gesellschaftliche Verfaßtheit Deutschlands am Vorabend des Ersten Weltkrieges nicht gerecht. Insgesamt beurteilten die deutschen Zeitungen die Vorgänge in Zabern aus einer souveränen Position heraus durchweg kritisch. Auch das Selbstverständnis des Reichstages wurde durch die öffentliche Auseinandersetzung verändert.

Das durch die Zaberner Affäre befeuerte Selbstbewußtsein der Parlamentarier im Reichstag führte schließlich zum ersten Mißbilligungsvotum in der deutschen Geschichte gegen einen Reichskanzler und zu einem erheblichen Ansehensverlust des Kaisers. Und so führten die Ereignisse dazu, daß selbst bei führenden Militärs im Reich die Gesetzesübertretungen kein Verständnis fanden. „Schon wieder ein Unglück durch ‘Sic volo, sic jubeo’“, kommentierte Albert Hopman, die rechte Hand von Tirpitz im Reichsmarineamt die Affäre, die durch säbelrasselnde Ignoranz zu einem öffentlichen Skandal wurde.

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